Als das Mittelalter voranschritt und der Druck durch äußere Feinde auf die europäischen Christen stieg, gerieten vielerorts Sodomiten als Häretiker ins Visier der Gesetzgeber. Freiheiten verschwanden, und Sexualität wurde stärker von oben reglementiert. Selten einmal tatsächlich erfolgreich, klar. Der Arm des Staates war beileibe nicht so lang wie heute, und Überwachung war schwierig. Was aber anstieg, das war das Risiko. Nicht jeder traut sich, seine Sexualität auszuleben und beispielsweise als schwuler Mann einen Liebhaber zu suchen, wenn dafür gleich die Todesstrafe droht.
Dennoch gab es Schwule und Lesben. Über Lesben lässt sich sehr wenig sagen, denn keiner sprach über sie. Sogar in Gerichtsurteilen, wo Frauen wegen Sodomie verurteilt wurden, kam es vor, dass nicht einmal ein Begriff für ihre Sexualität gefunden werden konnte. Bei Männern konnte man vor Gericht wenigstens klar die Sodomie benennen.
Diverse Homosexuelle lebten jedenfalls auch völlig unbehelligt in Partnerschaften! Sogar einige Könige waren bekannt für ihre eindeutigen sexuellen Präferenzen und verloren dennoch nicht ihre Krone. Was also ging und was nicht ging, war nicht immer so berechenbar, wie man auf den ersten Blick glauben mag.
Es ist doch verboten!
Richtig. Das scherte aber kaum jemanden. Sicher, einige ließen sich von ihren eigentlichen Präferenzen abbringen oder haderten mit sich. Klöster boten beispielsweise eine Möglichkeit, dem „Leben in Sünde“ zu entkommen. Homosexuelle ließen sich allerdings im Allgemeinen nicht von Gesetzen oder der Religion beeindrucken. Die Leute wollten lieben, und sie wollten Sex.
Woher wissen wir das? Studien aus der Zeit selbst gibt es ja nicht, vom lückenhaften „Homosexuellen-Zensus“ in Venedig einmal abgesehen.
Eine Schwierigkeit: Die klare Unterteilung in homosexuell und heterosexuell als „Vollzeit-Präferenz“ ist ziemlich neu. Das setze sich erst um ca. 1870 herum als Konzept durch. Die meisten Leute hatten vermutlich irgendwann einmal romantische oder sexuelle Erfahrungen, die im Sinne der damals geltenden Ansichten „Sodomie“ waren. Eben „Sex, der gegen die Gesetze Gottes verstieß“. Genau wie in der Antike gelegentliche sexuelle Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht normal waren, hatten auch die Menschen im Mittelalter Sex auf viele Spielarten. Wer z.B. glaubt, Strap-On-Dildos wären modern, dem rate ich zu einem Blick in die Kunstgeschichte…
Sodomie schön und gut. Aber gab’s denn jetzt auch Homosexuelle?
Klar. Genau wie heute gab es Leute, die stark zu ihrem eigenen Geschlecht tendierten. Wie bereits gesagt, sogar einige Könige. Edward II. soll nach einigen Quellen aufgrund einer Liebesgeschichte mit einem Mann 1327 gestürzt worden sein. Dem sagte man nach, dass er den König und dessen Frau entzweite. Der Liebhaber wurde durch Kastration getötet und der König von einem Auftragsmörder umgebracht, der ihm angeblich ein heißes Eisen in den Hintern einführte. Vermutlich hätten seine Feinde seine Homosexualität nicht so sehr betont, als sie ihn absetzten, wenn er ein kompetenterer Herrscher gewesen wäre. Immerhin hinterließ er auch vier Kinder – irgendwann hatte er also (vermutlich) auch Sex mit seiner Frau.
Der religiöse König Richard (Löwenherz) hatte einige Jahrzehnte zuvor eine lang anhaltende Beziehung mit dem französischen König Philipp II. August mit dem er viel Zeit verbrachte und das Bett teilte. Immer wieder schwor er seinem „unheiligen Lebensstil ab“ – erfolglos. Als er schwer krank wurde, schwor er, dass er ein heiligeres Leben führen würde, wenn er überlebte. Er überlebte, hinterließ dennoch keine Kinder. Zeitzeugen betonten, dass er zwar eine Ehefrau hatte, aber „keine Ehe führte“. Vermutlich hat er sich also nicht spontan den Frauen zugewandt, bevor er an Wundbrand starb.
Kirchenleute und andere Schreiber
Viele Quellen, die wir heutzutage zu „Sodomie“ bzw. homosexuellem Leben haben, stammen entweder aus Gerichtsakten oder aus romantischen Texten, beispielsweise Briefen an Liebhaber. Ritter, Aristokraten aller Art und gerade auch Kleriker hinterließen eine ansehnliche Menge solcher Schreiben. Es ist naheliegend, dass sie irgendwann auch Sex hatten, so wie die meisten Liebespaare.
Viele von ihnen ließen sich auch gemeinsam bestatten – so wie das bei Paaren üblich war. Gerade im Frühmittelalter gab es hier noch, wie schon beim letzten Mal erwähnt, mehr Freiräume. Am Hof von Karl dem Großen – der ja bekanntermaßen ein gläubiger Mann war – gab es z.B. einen angesehenen Mönch und Gelehrten, der eine Beziehung zu einem Bischof führte.
Die erste gleichgeschlechtlichen Ehe
Richtig gelesen, kein Witz! Genau wie bei eingetragenen Partnerschaften allerdings keine Ehe, sondern nur „fast genau so als ob“. Zwei Männer, die miteinander in einem heiligen Bund vereinigt werden.
Bis zum 13. Jh. wurden im Mittelmeerraum vielerorts Zeremonien „spiritueller Vereinigung“ durchgeführt, die in ihrem Ablauf exakt einer Eheschließung entsprachen. Diese Rituale standen zwar offiziell unter dem Vorzeichen von Liebe, Bindung und Hingabe – Nachwuchs zeugen war schließlich nicht möglich. Aber jedem muss klar gewesen sein, dass viele der so Vereinigten auch Sex hatten. Vermutlich schätzten die Gemeinden allerdings die Stabilität und die Einbindung in das geordnete Gemeinwesen. Kurz: „dass es seine Ordnung hatte“. Ein vom Papst abgesegnetes Sakrament wie das Sakrament der Ehe war es natürlich nicht. Aber auch heterosexuelle Ehen brauchten bis ins 16. Jh. keinen Priester, um Ehen zu sein.
Männerfreundschaft!
Warum funktionierte so eine Institution? Das hat mehrere Gründe. Zum einen war dieses Ritual nicht explizit für Schwule gedacht. Diese „geistige Bruderschaft“ richtete sich an Männer, die ein unzerreißbares Band zwischen sich schmieden wollten. Denk dabei an die „Blutsbrüderschaft“ aus Indianerfilmen.
Oftmals waren die Männer, die an dieser Zeremonie teilnahmen, Missionare, die zusammen in ein fremdes Land zogen – ein gefährliches Abenteuer, wo sie aufeinander angewiesen waren. Da ergab es nur Sinn, dass sie sich auch vor Gott Treue und Einigkeit versprachen.
Das Ritual selbst war aber kaum von Ehen zu unterscheiden. Ein erhaltenes Beispiel aus dem 12. Jh. umfasste das Ergreifen der rechten Hand, das gemeinsame Beten von Heiratsgebeten und einen zeremoniellen Kuss.
Eine weitere Ähnlichkeit findet sich in monastischen Regeln. Mönche, die keine Frauen heiraten durften, war auch diese Verbrüderungszeremonie verweigert. Mönche, denen die Ehe gestattet war, durften wiederum auch dieses Ritual vollziehen.
Das Ende der Männerehe
Jedem war klar, dass auch Schwule sich vereinigten – und dann Sex hatten. Mit der weitreichenden Kriminalisierung homosexueller Akte, die im 13. Jh. einsetzte, konnte die Kirche diese Rituale nicht mehr ignorieren.
1306 deklarierte Andronikos II., der Kaiser von Byzanz, dass ebenso wie Inzest und Zauberei der Sex zwischen Männern verboten sei. Er fügte explizit an, dass der Staat gleichgeschlechtliche Ehen verhindern solle und die Kirche diese nicht anerkenne. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass sie zuvor zumindest ein gewisses Maß an Anerkennung besessen haben mussten.
Tilgung der Quellen
Alle lateinischen Versionen der Zeremonie sind verschwunden und wurden vermutlich zerstört. Viele griechische Aufzeichnungen wurden im Verlauf der Jahrhunderte ebenfalls verwüstet. Gänzlich verschwunden ist das Konzept der gleichgeschlechtlichen Ehe natürlich nicht. Beispielsweise gab es im Rom des 16. Jh. eine Bruderschaft von Portugiesen, die sich dort nach der exakten Formel der üblichen Ehe vermählten – bis sie aufgespürt und verbrannt wurden.
Keine Ehe mehr – aber die Liebe verschwindet doch nicht?
Homosexuelle hörten nicht auf, sich zu lieben. Sie suchten weiterhin nach Möglichkeiten, zusammenzuleben und echte Partnerschaften zu führen. Daran änderte auch die Kriminalisierung nichts.
Verträge müssen her
Kirchliche Segen waren nicht mehr zu haben – aber das Wichtigste war schon immer, ob die Gemeinde der Meinung war, dass alles seine Ordnung hatte. Das Wesentliche war sowieso, keine Wellen zu schlagen und keine Unruhe zu verbreiten.
In England und einigen Mittelmeerländern, besonders im Süden Frankreichs, gab es dazu das sogenannte affrèrement.
Affrèrement-Kontrakte
Diese „Verbrüderung“ war ein notariell beglaubigter, schriftlicher Vertrag, der zwei Personen bzw. Familien miteinander vereinigte und rechtlich miteinander verschmolz. Man verkündete diese Vereinigung öffentlich und vor Zeugen, die dann auch noch ihr Zeugnis unterschrieben.
Man muss dabei wissen: Der Haushalt war die Grundeinheit der mittelalterlichen Gesellschaft – nicht die Kleinfamilie, so wie heute. Vielerorts schworen die beiden Personen, nun „un pain, un vin, et une bourse“ zu teilen – also Brot und Wein zu teilen und nur noch eine Geldbörse zu haben.
Nicht für Homosexuelle gedacht
Diese Kontrakte waren eigentlich nicht spezifisch für Schwule gedacht. Sie dienten hauptsächlich dazu, beim Tod von Eltern zu verhindern, dass Brüder oder Cousins sich über das Erbe zerstritten. Sie konnten so ihre Familien vereinigen und einen Hof gemeinsam weiterführen. Alles, was sie hatten, wurde geteilt. Vielerorts waren sogar beide Väter in der Pflicht, zur Mitgift aller Töchter beizutragen.
Eine Familie nach eigener Vorstellung
Nicht immer waren die Beteiligten bereits durch Blut verwandt. Gerade nach der großen Pestwelle 1347/48 war viel Land verfügbar – und viele Leute waren tot. Entsprechend gab es verlassene Höfe und anderes Eigentum, das aufgekauft werden konnte. Einer allein konnte das nicht stemmen. Affrèrement bot darum ein praktisches Instrument, um Familien zu vereinigen und Rechtssicherheit zu schaffen.
Affrèrement war allerdings nichts, was Leute einfach nur aus wirtschaftlichen Gründen eingingen. Es war ein Band, das Familien begründete – abseits vom Zufall der Geburt und basierend auf Freundschaft und gemeinsamen Interessen.
Und bei Schwulen?
Das Affrèrement war nichts Neues. Es war ein lang etabliertes Konzept, das auch von der breiteren Gesellschaft genutzt wurde. Es bot darum Schwulen die Möglichkeit, einen Haushalt zu begründen. Den Nachbarn wiederum bot es gerade genug Zweideutigkeit und Abstreitbarkeit, damit zwei Männer eine Partnerschaft legalisieren konnten, ohne dass der sexuelle Part betont wurde. Zwei Männer lebten zusammen wie Brüder – und mehr muss man nicht wissen.
Erst im 16. Jh. verschwand dann auch das Affrèrement. Bis dahin spiegelte es moderne Debatten um die Frage der homosexuellen Partnerschaft. Es gab Männern eine geordnete Möglichkeit, eine Beziehung zu führen, ohne die heilige Ehe zu imitieren.
Schluss mit lustig
In den folgenden vierhundert Jahren bis heute gab es keine rechtlichen Institutionen mehr, welche Homosexuellen eine geregelte Partnerschaft erlaubt hätten. In der Folge der Reformation mit ihren religiös aufgeladenen Debatten und gesellschaftlichen Umwälzungen war im 16. und 17. Jh. schlicht kein Platz für „don’t ask don’t tell“.
Das Mittelalter war divers und widersprüchlich – wie die Moderne auch
In einer Zeit, wo Sodomiten verbrannt wurden, gab es dennoch Verträge, um einen Haushalt zu führen. Das Sakrament der Ehe wird nur heterosexuellen Paaren gespendet, aber trotzdem wurden Männer in Kirchen vereinigt. Ein nuancierter Blick auf das Mittelalter ermöglicht, die Menschen zu sehen statt der Systeme. Wenn Bischöfe einen Liebhaber haben – wie kann man dann behaupten, dass „die Kirche“ absolut gegen Homosexuelle war? Recht, Normen und religiöse Leitsätze sind nicht das Gleiche wie gelebter Alltag. Zwischen den großen normativen Säulen, welche die Gesellschaft tragen, ist viel Platz für das Chaos, das mit dem Menschsein einhergeht.
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„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Sie soll Autoren, Spielern und Spielleitern als Anregung dienen und Inspiration fürs Rollenspiel oder Geschichten bieten. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.
Quellen
- Berkowitz, E. (2012). Sex & Punishment. 4000 Years of Judging Desire. London: The Westbourne Press.
- Burkart, G. (2018). Soziologie der Paarbeziehung. Eine Einführung. https://doi.org/10.1007/978-3-658-19405-5.
- Logan, T. D. (2017). Economics, Sexuality, and Male Sex Work. https://doi.org/10.1017/9781316423899.
- Mildenberger, F. G. (2019). Sexualgeschichte. https://doi.org/10.1007/978-3-658-27848-9.
- Puff, H. (2000). Female Sodomy: The Trial of Katherina Hetzeldorfer (1477). Journal of Medieval and Early Modern Studies, 30(1), 41–62. https://doi.org/10.1215/10829636-30-1-41.