Die absolute Mehrheit aller Babys wird in Deutschland heutzutage in Krankenhäusern unter der Aufsicht von Ärzten geboren. Das war aber nicht immer so. Erst im 17. Jahrhundert kam der Trend auf, statt auf erfahrene Hebammen immer mehr auf Ärzte zu vertrauen. Diese waren – natürlich – Männer.
Ärzte waren keine Anatomen!
Damit gingen mehrere Probleme einher: Zum einen hatten viele Ärzte keinerlei Ahnung von Anatomie, denn Anatomie wurde an vielen Colleges gar nicht gelehrt. Wer etwas über den Aufbau des menschlichen Körpers lernen wollte, der musste teure Kurse bei externen Dienstleistern belegen (einige Studenten werden sich gerade spontan ins 17. Jahrhundert zurückversetzt fühlen, während sie zu ihren Repetitorien gehen.) Zum anderen war es nicht angemessen, wenn Männer – selbst Ärzte – eine fremde Frau völlig entblößt zu Gesicht bekamen.
Nach und nach fanden die Ärzte allerdings Lösungen für diese Schwierigkeiten bei der Behandlung. Aus der reinen Dienstleistung des Geldes wegen entwickelte sich zunehmend eine Zunft von Medici, die das Feld der Gynäkologie ernsthaft voranbrachten. William Smellie stellte die Geburtshilfe mit seinem Standardwerk „A Treatise on the Theory and Practice of Midwifery“ im Jahr 1752 auf wissenschaftliche Füße.
Die Forceps rettet leben
Das Symbol der modernen, medizinischen Geburt ist die Forceps oder Geburtszange. Die Geburtszange ermöglichte es einem Geburtshelfer, Kinder zu drehen oder bei schwierigen Geburten die Geburt mithilfe der Zunge zu Ende zu bringen. Zuvor starben bei Komplikationen meist das Kind oder immer wieder auch die Mutter. Manchmal konnte mit einem Kaiserschnitt zumindest noch das Baby gerettet werden.
Die Forceps war lange Zeit das Familiengeheimnis der Familie Chamberlen. Die Chamberlens hatten eine über hundertjährige Tradition der Hebammenarbeit, bevor die Forceps breitere Bekanntheit erlangte. Um ihr Geheimnis zu wahren, nutzten die Chamberlens elaborierte Tricksereien.
Geburt gleich einer Zaubershow
Die Arbeit – und der Auftritt – der Chamberlens begann direkt mit der Ankunft. Sie fuhren mit ihrer Kutsche zum Haus der Frau. Umgeben von einer Aura des Mysteriösen, trugen sie dann eine mit Gold ornamentierte Kiste hinein, die so groß war, dass gleich zwei Personen sie tragen mussten. Den Gerüchten nach enthielt die Kiste eine komplizierte, quasi-arkane Apparatur. Sodann wurden alle Angehörigen aus dem Zimmer der Frau geschickt, und die Tür wurde verschlossen. Zeugen berichteten, dass dann allerlei merkwürdige Geräusche und Glockengebimmel aus dem Zimmer der Frau zu hören waren. Niemand wurde hereingelassen, bis die Geburt vollzogen war.
Das Familiengeheimnis sickerte erst im beginnenden 18. Jahrhundert an die Öffentlichkeit. Die Theorie ist, dass Hugh Chamberlen das Geheimnis durch die Hintertür an die Öffentlichkeit getragen hat. Er war ohne Söhne geblieben und konnte so das Familiengeheimnis nicht weitergeben. Wie viele Babys hätten gerettet werden können, wenn die Chamberlens ihr Familiengeheimnis nicht so gut gehütet hätten, ist schwer zu sagen. Geburtszangen kommen jedenfalls auch heute noch zum Einsatz, allerdings aufgrund anderer medizinischer Methoden immer weniger.
„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.
Quelle: Kelly, Kate: The History of Medicine. Old World and New. Early Medical Care, 1700–1840. Infobase Publishing: New York, 2010. S. 22–27
Bild: https://archiveshub.jisc.ac.uk/features/medicalprofession/chamberlenforceps.html