Die meisten Rollenspieler kennen das sicherlich: Wir basteln an unserem nächsten Charakter und können uns nicht entscheiden, welche Vor- und Nachteile wir haben wollen. Alle, die vor allem narrativ spielen oder Systeme benutzen, in denen es gar keine Vor- und Nachteile gibt, haben damit natürlich eher selten bis nie zu tun. Die Mehrheit aller Rollenspiele aber mischt narrative und gamistische Elemente, und sehr viele Spiele verwenden dabei sogenannte Vor- und Nachteile, um Charaktere stärker regelmechanisch voneinander abzugrenzen sowie komplexer und – im Idealfall – auch interessanter zu machen.
Der Magier, der von minderen Geistern geplagt wird, wann immer er zaubert, im Gegenzug aber einen Bonus für seine geliebten Feuerzauber bekommt. Der Zwerg, der von Goldgier getrieben wird, aber dafür besonders gut mit Axt und Kettenpanzer kämpft. Der Dieb, der notorisch lügt, dafür aber besonders gut darin ist, zu lügen. Der Edgerunner, der eine schwere Allergie gegen Erdbeeren hat, dafür aber mehr Cyberware hat als andere.
Wir nehmen regelmechanische Nachteile in Kauf, um uns so Vorteile zu verschaffen oder je nach System auch andere Werte zu verbessern. Wir wägen ab, was uns mehr praktischen Nutzen bringt, wir optimieren, wir justieren, und wenn wir dabei zusätzlich noch an die Story denken, dann achten wir auch mit darauf, dass es zu unserem Charakter passt. Es wäre aber illusorisch, davon auszugehen, dass das die Norm ist. Für die meisten Spieler dürfte es viel mehr ein Pingpong-Spiel sein zwischen der Umsetzung des Konzepts und seiner Optimierung. Wenn nötig, wird das Konzept etwas justiert, der Hintergrund angepasst und ein wenig an den Ecken und Kanten gefeilt. Alles, um im Gegenzug diesen einen genehmen Nachteil unterzubringen, den man ja wiederum braucht, um den gewünschten Vorteil bezahlen zu können.
Nur… Wessen Nachteil ist das eigentlich?
Wem nutzt es, wem schadet es?
Die meisten Systeme überlassen die Wahl der Vor- und Nachteile dem individuellen Spieler und räumen bestenfalls dem Spielleiter noch ein Vetorecht ein. Nur ist das genau genommen nicht besonders fair. Während Vor- und Nachteile zwar Teil des Charakters sind, ist es nicht dieser Charakter und dessen Spieler allein, der die Konsequenzen auszubaden hat. Ganz im Gegenteil!
Üblicherweise ist es der Charakter (und aufgrund der Regeln damit meist auch sein Spieler), der von den eigenen Vorteilen profitiert. In vielen Fällen jedoch ist es die gesamte Gruppe, die die Konsequenzen der Nachteile tragen muss.
Wenn ein Magier 3 zusätzliche Zauber beherrscht, dafür aber den Nachteil hat, von einer Bande blutrünstiger Killer gejagt zu werden, dann ist absehbar, worauf das hinauslaufen wird. Es wird die gesamte Spielgruppe sein, die sich mit diesen Killern herumplagen muss.
Oder ein deutlicheres Beispiel, aus persönlicher Erfahrung: Ein Straßensamurai, der besonders gut kämpfen kann, dafür aber unter anderem Nachteile hat wie massive Vorurteile gegen Frauen und Elfen. Auszubaden hatte das am Ende die Spielerin der Elfe, die dabei auch noch höllisch aufpassen musste, weil ihr Gegenüber eine so gefährliche Kampfmaschine war. Der Spieler sah sich zusätzlich legitimiert, seinen Charakter als misogynes Arschloch zu spielen. Schließlich hatte er ja sogar den passenden Nachteil dafür.
Da draußen schreien jetzt einige sicherlich auf, und ich kann bereits hören, was sie sagen: „Mit solchen Leuten würde ich nicht spielen!“ – „Toxischer Spieler. Rauswerfen!“ – „Soll sich nicht so haben!“ Und natürlich das andere extrem: „Wir spielen bei uns rein narrativ, allein auf Basis der Geräusche tibetischer Klangschalen.“
Man muss sich arrangieren
Okay, klar. Aber du und ich, wir wissen es besser als das. Wir wissen beide, dass nicht jeder sich seine Mitspieler aussuchen kann, nicht jeder in der Großstadt wohnt, wo er immer noch eine weitere neue Gruppen finden könnte und wir sowieso ziemlich schnell alleine da stünden, wenn wir jeden Mitspieler in den Wald treiben würden, der mal Mist macht oder etwas Dummes sagt.
Wir wissen ebenso, dass es viele Spieler gibt, denen die gamistischen Elemente des Rollenspiels alles andere als unwichtig sind und die gerne an ihren Charakteren schrauben und im Spiel gebannt darauf warten, dass der Würfel ausrollt und das Ergebnis feststeht.
Optimierer und Regelfuchser, Taktiker und Knobler sind Teil eines großen Ganzen, und daran ist nichts Negatives. Wir müssen aber aufräumen mit dem Irrglauben, dass jeder Spieler nur für sich allein entscheidet, wenn er relevante Weichen für seinen Charakter stellt.
Die meisten Nachteile werden ignoriert
Das grundsätzliche Konzept von Vorteilen, die einen Charakter stärker machen, und Nachteilen, die ihn schwächer machen, ist gut. Tolle Idee. Es leuchtet ein, dass diese Idee sich einmal quer durch alle möglichen Regelsysteme verbreitet hat. Problematisch ist jedoch, dass wir von Natur aus dazu neigen, uns selbst und unsere Mitspieler zu betrügen.
Wer bei Shadowrun eine schwere Erdbeerallergie nimmt, der pokert noch nicht einmal darauf, dass das ohnehin nicht zum Tragen kommen wird. Der weiß, dass es kaum jemals eine Rolle spielen kann. Falls du das Beispiel jetzt lächerlich finden solltest: Das war zu meiner Zeit ein echter Klassiker. Ich glaube, weil es sogar explizit ein Beispiel für eine mögliche Allergie in einem der Grundregelwerke war.
Nun sind Charaktere bei Shadowrun aber tendenziell eher kurzlebig. Bekommt der Erdbeerallergiker es nicht bereits im allerersten Run mit Erdbeeren zu tun, hat er die Punkte de facto geschenkt bekommen.
Man kann hier durchaus unterstellen, dass bei derart exotischen Nachteilen vom Spieler wissentlich einkalkuliert wurde, dass der Spielleiter das eh nicht anspielen wird, geschweige denn, so ohne Weiteres könnte. Und selbst wenn. Allergien haben damals bei Shadowrun ohnehin kaum etwas Relevantes bewirkt. Es ist ja nicht so, als ob irgendwer seine Maschinenpistole mit Erdbeermunition laden würde. Spaß machen tut die Beschäftigung mit Erdbeeren zudem auch nicht, wenn man eigentlich Cyber-optimierte Straßenkrieger und punkige Anarchisten spielen will.
Viele Nachteile greifen kaum
Wenn der Spieler eines Conan-Barbaren sich ein +1 auf Streitaxt kauft, im Tausch gegen ein -1 (meinethalben auch ein -2) auf Soziales, dann hat er damit einen Vorteil. Er hat aber keinen Nachteil, denn er ist sozial ohnehin eine Flachpfeife. Er ist schließlich der Barbar mit der Streitaxt. Niemand erwartet von ihm, dass er die Verhandlungen führt. Vermutlich übernimmt das dann immer ein anderer Spieler mit einem geeigneteren Charakter. Aber selbst wenn es aufkommt und schiefgeht, stehen die Chancen gut, dass der Barbar einfach zu seiner bevorzugten Problemlösung zurückkehrt und dann eben wieder Gebrauch von seiner Axt macht.
Alles im Eimer? Alle für einen!
Was nicht ignoriert wird, unmöglich anspielbar ist oder ohnehin nicht relevant für den Charakter, das wird nicht selten auf die Gemeinschaft umgelegt. Glaubt denn irgendein Spieler tatsächlich, dass sein Charakter es allein ertragen muss, dass eine Gruppe Bösewichte ihn aufgrund seines Nachteils „Feinde“ verfolgen? Es ist sein Nachteil, und er bekommt dafür Punkte, aber ausbaden muss es die ganze Gruppe. Mit Schulden sieht das oft genauso aus. Nicht selten ist die Gruppe eher bereit, diese Probleme des Einzelnen zu lösen, als die daraus resultierenden Komplikationen auf Dauer zu erdulden.
So führen die Schulden des Einzelnen nicht selten dazu, dass alle anderen am Ende weniger Loot haben oder dass alle zwar ihren fairen Anteil bekommen, der Verschuldete sich aber entweder die Schulden in Feinde umwandelt, indem er sie nicht bezahlt, oder sie bezahlt und der Gruppe dadurch schadet, dass er weniger Geld für Ausrüstung hat oder seinen Spesenanteil nicht zahlen kann.
Ziemlich gamistisch gesehen!
Man könnte jetzt einwenden, dass das ja alles arg gamistisch betrachtet sei. Die bösen Kultisten, die den einen Charakter hassen wie die Pest und ihn verfolgen, generieren doch spannenden Plot für alle Beteiligten. Klar. Und? Das tut hier nichts zur Sache.
Vor- und Nachteile sind in den meisten Systemen rein gamistische Konzepte und können daher auch nur gamistisch bewertet werden. Natürlich ist der Stress mit den Kultisten Plot für alle Beteiligten, aber glaubt irgendjemand, dass die Spielleitung stattdessen Däumchen gedreht und nichts gemacht hätte?
Obendrein: Wenn man es nicht gamistisch betrachten soll, warum bekommt der Charakter, der den Nachteil hat, dann regelmechanische Vorteile im Tausch für seinen Nachteil?
Schlimmer geht immer
Man kann es übrigens auch richtig übertreiben. Manche Spieler schaffen es, die gesamte Gruppe unfreiwillig zu Babysittern des eigenen Cronenberg-Charakters zu machen. Wer einen blinden Charakter erschafft, ohne das mit der ganzen Gruppe abzusprechen, der beansprucht für sich, dass alle anderen sich die ganze Zeit darum kümmern müssen, dass sein Charakter nicht auf der Strecke bleibt. In diesem Fall müsste eine Kampagne geplant werden, die das berücksichtigt und ermächtigt.
Es ist das Charaktererschaffungs-Äquivalent des Taschenlampenfallenlassers. Genau wie beim Taschenlampenfallenlasser sind die Grenzen zwischen dem Bedürfnis, Drama und spannendes Narrativ zu erzeugen, und der Verkörperung eines egozentrischen Edgelords ziemlich fließend.
Rollenspiel ist ein Teamsport
Egal wie man spielt: Rollenspiel ist eine Gruppenaktivität. Es gibt kein I in RPG. Da es allerdings sowohl in „Rollenspiel“ als auch in „Roleplaying Game“ eines gibt, ist das hier eine dumme Metapher. Der Punkt jedoch ist klar, denke ich.
Niemand spielt für sich allein. Das gilt übrigens sowohl für Gamisten als auch für Narrativisten. Es ist nur eine andere Art von Teamwork. Die Gamisten, die ihren Spaß aus der klugen Anwendung der Spielregeln ziehen, aus taktischen Ansätzen und aus dem Zusammenspiel der Kräfte, brauchen Charakter-Teamwork. Wenn der Heiler nicht gut genug heilt, der Krieger nicht tanken kann und der Dieb die Fallen nicht findet, scheitert die Gruppe als ganze und damit der Gamist als Einzelner. Narrativistische Spieler hingegen benötigen ein hohes Maß an Teamwork unter den Spielern und einen Willen, den eigenen Charakter in die Geschichte zu integrieren und ihn manchmal sogar unterzuordnen. Nur wenn alle am gleichen Strang ziehen, sind sie in der Lage, miteinander – mitunter auch gegen die Interessen ihrer eigenen Charaktere – fesselndes Drama zu generieren.
Regeln und Geschichte gehören oft zusammen
Die meisten Spieler sind übrigens weder komplette Gamisten noch völlige Narrativisten. Gute Regeln können viel Spaß machen, genauso, wie tolle Storys und gutes Charakterspiel fast alles besser machen.
Wenn du das nächste Mal einen Charakter erschaffst und du die Vor- und Nachteile durchgehst, dann schadet es sicherlich nicht, dieses Thema im Hinterkopf zu behalten. Wer trägt am Ende die Konsequenzen deines Handelns im Spiel? Ist der Nachteil tatsächlich ein Nachteil oder beschummelt man letztlich nur das System und die Mitspieler? Nur weil etwas geschrieben steht und regelmechanisch „legal“ ist, ist es nämlich noch lange keine gute Idee und kann mitunter sogar grob unethisch sein. Der Straßensamurai, der nicht mehr war als eine Ausrede, um eine Mitspielerin im Spiel sexistisch und rassistisch zu beleidigen? Regelmechanisch völlig korrekt umgesetzt und legal. Im Rahmen der Spielgruppe als sozialer Gruppe jedoch völlig daneben und widerlich.
Das sind Sollbruchstellen, an denen die Gruppe irgendwann zerbrechen kann oder die zumindest stetes Streitpotenzial bieten. Selbst wenn deine Mitspieler nichts sagen, ist es auch nicht gut, wenn sie hinter deinem Rücken mit den Augen rollen und deinen Charakter lediglich ertragen, statt ihn zu schätzen. Die Spielregeln sind hier nur ein Baustein von vielen und müssen mit ein wenig Fingerspitzengefühl passend zu deinen Freunden und Mitspielern angewandt werden.
Zusammenfassung und Schlusswort
Statt den eigenen Charakter als Machtbereich und Privileg zu betrachten, versuch einmal, deine Spielfigur eher als besondere Verantwortung zu sehen. Die meisten Systeme erlauben dir, zu tun und zu lassen, was auch immer regelmechanisch zulässig ist. Am Ende des Tages wollen jedoch alle gemeinsam Spaß haben und gemeinsam die Ziele erreichen, auf die man sich als Gruppe geeinigt hat. Ob diese Ziele nun das Überwinden eines mächtigen Gegners auf Basis der Regeln umfasst oder das gemeinsame Erzählen einer epischen Geschichte: Jeder trägt seinen Teil bei.
Die Auswahl der Vor- und Nachteile, die du für deine Charaktere triffst, formt die Rolle deines Charakters, sowohl in der Gruppe als auch in Spielwelt und Geschichte. Deine Vorteile können auch anderen nutzen, aber deine Nachteile werden ebenso fast immer von deinen Mitspielern und ihren Charakteren mitgetragen.
Wenn du also mit einem besonders krassen Nachteil liebäugelst, sprich doch einmal mit deinen Mitspielern darüber und nicht nur mit der Spielleitung. Am Ende gilt schließlich, dass alles möglich ist, wenn alle Spaß daran haben.