Hier hinter dem Haus gibt es einen Wald, genau dort, wo einst der Todesstreifen West-Berlin von der DDR abtrennte. Jede Nacht kommt eine Rotte Wildschweine und wühlt in der Suhle, wo das abgeleitete Regenwasser versickert. Das Einzige, was den Garten von ihnen trennt, ist ein kleiner, nicht besonders solider Maschendrahtzaun. Regelmäßig fliehen wir vor ihnen beim Spaziergehen, wenn der Eber mal wieder im Gebüsch grunzt.
Die schmackhaften Biester einfach jagen gehen, das dürfen wir natürlich nicht. Das verbietet der Staat, denn dafür braucht man eine Berechtigung. Die könnten wir natürlich kriegen, wenn wir entsprechende Kurse besuchen würden. Denn der Staat legt ja vor allem Wert darauf, dass wir wissen, was wir tun, und nicht wild mit einer Schusswaffe im Naherholungsgebiet um uns schießen. Die englischen Könige im Hochmittelalter hatten jedoch ganz andere Gründe, um sich große Mengen der Wälder anzueignen und die Jagd stark zu regulieren.
Der Königsforst
Im 12. und 13. Jh. unterlagen viele der englischen Wälder einem besonderen königlichen Forstrecht, das den Gebrauch der dortigen Ressourcen regelte. Die Normannen hatten nach der Eroberung des alten angelsächsischen Reiches 1066 alsbald ein neues Jagd- und Forstrecht in England eingeführt.
Warum überhaupt ein königliches Waldrecht?
Der König erließ ein Schutzrecht für den Wald, welcher das Fällen von Bäumen und das Erschließen von Land stark regulierte. Zudem wurden verschiedene Tiere geschützt. Das hatte zwei Gründe: Zum einen schätzten die neuen normannischen Herrscher die Jagd als Vergnügen. Zum anderen musste irgendwoher das Fleisch kommen, um den Hofstaat des Königs zu versorgen.
Man könnte meinen, dass die mittelalterliche Landschaft genug wildes Land bot, damit der König fleißig jagen konnte. Allerdings muss man nur einmal moderne Ausrottungen bedenken: der amerikanische Büffel wurde massiv dezimiert, der Dodo ist gefressen und das Riesenfaultier auch. Menschen können recht zügig die Landschaft leerfuttern, wenn sie sich entscheiden, dass die Jagd ein wichtiger Teil ihrer Ernährung ist. So sehr, dass König Edward II. sich veranlasst sah, Gesetze zu erlassen, wieviel Fleisch gegessen werden darf!
Wie sah England aus und wer war betroffen?
Wichtig zu wissen ist, dass England am Ende des 11. Jh. noch stark bewaldet war. Viele Dörfer lagen mitten in den königlichen Wäldern – und trotzten der Wildnis mit Pflug und Axt langsam, aber sicher neues Land ab. Damit der König den Wald so nutzen konnte, wie er es wollte, musste also ein Gesetz her – ein ziemlich unbeliebtes Gesetz, wohlgemerkt.
Dazu kommt: England ist klein. Sobald der Wald in einzelne Waldstücke aufgebrochen wird, schwinden die Wildbestände rasch. Wird das Wildland dann auch noch rechtlich in kleine Bereiche aufgeteilt, ist ein effektiver Erhalt der Wildbestände kaum noch möglich. Das wussten auch die Könige, die der Jagd nachgehen wollten.
Nicht alle Ländereien unterlagen dem königlichen Forstrecht, das ist natürlich klar. Aber in ganz England gab es große Gebiete, die für die königliche Jagd eingeschränkt wurden.
Welche Tiere unterlagen dem königlichen Forstrecht?
Das Gesetz schützte Rothirsch, Damhirsch, Reh und Wildschwein. Im 13. Jh. fanden sich allerdings kaum noch Wildschweine im Königsforst, denn die herrschaftlichen Majestäten hatten sie reichlich zur Strecke gebracht. Edward III. hob zudem den Schutz des gemeinen Rehs auf, da die Meinung vorherrschte, dass es alle anderen Hirschsorten verdrängte. Die fast schon romantisch verklärte Zeit, wo der König sich im Wald bei der Jagd vergnügen konnte, schien mit dem 13. Jh. durch simple Ausbeutung der Wildbestände zu Ende zu gehen. Es gab aber auch politische Gründe, dazu später mehr.
Jäger, Förster und andere Privilegierte
Der König war nicht der Einzige, der im Königsforst der Jagd nachging. Denn der König verlieh Privilegien, die eine Freistellung vom Jagdverbot beinhalteten. Auch das hatte Gründe, die sich vorrangig an den Interessen des Königs orientierten.
Wildbestand kontrollieren
Zum einen wurde der Wildbestand von anderen Tieren bedroht. Deren Bestand zu kontrollieren, war das primäre Ziel solcher Jagdrechte. Dafür erhielten Personen ein sogenanntes „free warren“ – also das Privileg, vom Gesetz ausgenommen zu sein. Es ist, anders als eine heutige Lizenz, nicht die Erlaubnis, etwas zu tun, sondern eben das Privileg, vom Gesetz nicht eingeschränkt zu sein. Im Verlauf der Zeit wurde allerdings klarer geregelt, welche Tiere gejagt werden durften: Fuchs, Wolf, Hase, Kaninchen, Wildkatze, Dachs und Eichhörnchen. Solche Privilegien waren recht leicht zu erhalten.
Privatwald? Nicht mit mir!
Solche Jagdprivilegien sollten auch verhindern, dass der Druck auf den König anstieg, Teile seines Königswaldes an Privatleute abzugeben, denn das hätte Kontrollverlust bedeutet. Über die Generationen stellte jeder König nach und nach Teile des Königswaldes unter die Kontrolle anderer „Großer“ des Königreichs, die damit de facto einen Privatwald erhielten. Sogenannte „chases“. Das heutige Wort für Hetzjagd im Englischen ist ebenfalls chase.
König oder Adliger – macht’s einen Unterschied?
Nicht für die Leute, die in den entsprechenden Gebieten lebten. Ob nun ein Beamter des lokalen Magnaten die Gesetze durchsetzte oder ein Vertreter des Königs – das war einerlei. Vielerorts kümmerte sich zwar weiterhin ein königliches Forstgericht um die Strafen, aber die Gewinne gingen meist an den Besitzer des chase. Damit war der erste Schritt zur vollen Waldhoheit bereits getan.
Vollstreckung des Rechts
Es gibt also klare Regeln für Land und Wild. Der reine Schutzgedanken nützt dem König aber nichts, irgendjemand musste „Wilderer“ erwischen, und jemand musste sie verurteilen. Der chief forester und seine Delegierten waren weithin unbeliebt. Man vertraute ihnen nicht und begegnete ihnen mit Argwohn. Denn das Gesetz, das sie durchsetzten, war ja keines, das dem einzelnen Bauern etwas nützte. Eher im Gegenteil.
Die Delegierten des königlichen Forstmeisters waren die wardens bzw. „Vögte“, die jeweils über eine Handvoll Wälder wachten. Diese Posten wurden manchmal vom König vergeben, waren aber auch regelmäßig erblich.
Natürlich waren auch die wardens nicht immer vor Ort. Die meisten ihrer Aufgaben übertrugen sie an deputies (auf Deutsch gibt es dafür übrigens das tolle Wort „Amtsverweser“). Diese Stellvertreter machten die eigentliche Arbeit – aber der warden trug die volle Verantwortung.
Unter den wardens gab es noch eine weitere Ebene von Beamten, die sogenannten verderer – königliche Forstmeister. Sie wurden nicht bezahlt, waren dafür von allen anderen lokalen unbezahlten Tätigkeiten freigestellt (z.B. mussten sie nicht in einer Jury dienen). Ihre Hauptaufgabe war es, alle 6 Wochen im Waldgericht (forest court) zu Gericht zu sitzen und Vergehen gegen das Waldrecht zu bestrafen. Die eigentlichen Aufgaben der Jagd und des Wildschutzes wurden von Förstern und deren Gehilfen erledigt.
Warum die Gesetze brechen?
Nun waren die Gesetze also strikt und die Beamten unbeliebt. Warum also sollte jemand trotz allem am Förster vorbeischleichen und ungesehen im Wald dieses und jenes tun, was das Gesetz verbot?
Fleisch wäre die erste Antwort. Fleisch ist hochwertige Nahrung für hart arbeitende Menschen des Mittelalters. Honig findet sich auch im Wald, Eicheln für die eigenen Schweine gibt es dort zuhauf, Totholz für das heimische Feuer und natürlich frisch geschlagene kräftige Eiche für ein langlebiges neues Haus! Wer also beim Wald wohnte, der hatte Zugriff auf verführerische Extraressourcen, musste sich jedoch auch mit den dazugehörigen zusätzlichen Gesetzen rumschlagen.
Eine kleine Revolution!
Durch den ersten Krieg der Barone kam es 1217 zu einem Umbruch in der königlichen Dominanz über den Wald. Nach diesem Bürgerkrieg, der die Magna Carta durchsetzte und die königliche Macht gegenüber dem Adel generell begrenzte, wurde auch ein neues Forstrecht erlassen, das die Verwaltung dem König entzog und einem Konzil übertrug. Damit wurden auch viele der lange existierenden Ärgernisse ausgeräumt.
Ein Hundeleben – mit nur einer Zehe
Ein besonders verhasstes Gesetz war das, welches die Hundehaltung regelte. Allen Hunden, die im Wirkungsbereich des Forstbanns lebten, mussten drei Zehen an einer Vorderpfote amputiert werden, damit sie nicht zur Hatz genutzt werden konnten. Das Gesetz wurde nicht abgeschafft – aber jede Form von Ermittlung dazu wurde dem neu gegründeten Konzil zugewiesen, das nur alle drei Jahre tagte. Zudem wurde eingeschränkt, an welchen Orten diese Amputation durchgeführt wurde. Eine deutliche Schmälerung und Entwertung des Gesetzes.
Ein Parlament des Waldes
Die wichtigste Änderung war, dass der König nun nicht mehr nach Gutdünken Leute einsetzen konnte, um den Forst zu verwalten. Stattdessen wurde der Wald nun von einem Konzil aus 12 Rittern verwaltet, die dafür eingesetzt wurden.
Alle drei Jahre traten sie zusammen, um den Stand der Forstangelegenheiten zu diskutieren. Ihre Anweisungen wurden dann schriftlich an die Waldgerichte weitergegeben und so öffentlich festgehalten.
Swanimotes
Auch die Vergabe von Privilegien wurde reguliert. Fortan wurde die Nutzung des Waldes nur noch dreimal im Jahr diskutiert, und zwar bei Treffen, die swanimotes hießen. Es gab deren drei im Jahr. Das erste war zwei Wochen vor Michaelmas (Michaelstag), wo die Rechte für den Schweinetrieb zu den Eicheln geregelt wurde. Das zweite zum Martinstag, wo die Gebühren für Nutzungsrechte eingezogen wurden. Das dritte zwei Wochen vor Mittsommer, wo der Wald geschlossen war, damit die Tiere sich paaren konnten.
Das Forstgericht bleibt
Die primäre Aufgabe der verderer blieb die Überwachung des Waldes und die Abhaltung eines kleinen Gerichts. Alle 6 Wochen inspizierten sie junges Gehölz auf Nutzungsspuren und erkundigten sich nach geschlagenen Bäumen etc. Die kleineren Angelegenheiten bestraften sie direkt mit einem Bußgeld. Bei größeren Sachen wurden Bürgen gesucht, um das Erscheinen vor dem Forstgericht zu einem späteren Zeitpunkt zu garantieren. All das sah anders aus, wenn totes Wild gefunden wurde!
CSI: Totwild
Denn ein totes Tier war fast so schlimm wie ein toter Mensch. Wurde totes Rehwild gefunden, dann wurde eine Sonderermittlung in den vier nächstgelegenen Dörfern durchgeführt.
Immerhin: Das neue Forstrecht garantierte nun, dass „niemand mehr sein Leben oder einen Körperteil für Wildbret verlieren soll. Jeder, der jedoch beim Stehlen von Wildbret erwischt wird, der soll sich mit einem beträchtlichen Bußgeld von seiner Schuld freikaufen. Kann er das Strafgeld nicht aufbringen, soll er für ein Jahr und einen Tag im Kerker liegen. Hat er sich dann durch gutes Betragen ausgezeichnet, soll er freikommen. Ansonsten soll er aus dem Land verbannt werden“.
Frei vom königlichen Forstrecht
Neben den königlichen Wäldern gab es auch anderen Forst, wo jeder tun konnte, wie er wollte, solange niemand anders ihn daran hinderte. Dieses Land wurde allerdings immer kleiner, während die Könige immer mehr Land in Besitz nahmen.
Immer wieder finanzierten Könige allerdings teure Unterfangen durch das Verkaufen von Forst in Privathände. Richard Löwenherz finanzierte beispielsweise seine Kriege unter anderem durch den Verkauf von Forstprivilegien. Die Ritter von Surrey boten ihm 200 Mark Silber für ein beträchtliches Stück Wald.
Mit den neuen Gesetzen von 1217 begann dann die deforestation, also die Freilösung aus dem königlichen Forstrecht. Die Ritter, die für die königlichen Wälder zuständig waren, hatten schließlich wenig Interesse daran, die Privilegien des Königs zu erhalten. So schrumpften die königlichen Wälder nach und nach und gingen in Privathände über. 1300 hielt der König nach seinen Niederlagen in Frankreich und Schottland ein Parlament in Lincoln, wo er erneut große Bereiche aufgeben musste.
Warum die Gesetze so verhasst waren
Geschichten wie die von Robin Hood enthalten oft eine Erzählung über einen „Wilderer“, der von einem grausamen Adligen dafür bestraft wird, dass er doch nur Essen für seine Familie heranschaffen wollte.
Genau das war eine der größten Ursachen, weshalb diese Gesetze immer verhasst waren. Sie basierten nicht auf dem Rechtsverständnis der Bevölkerung. Der König hatte keine moralische Grundlage, die Jagd einzuschränken – es war Willkür, also Tyrannenherrschaft. Das galt für königliche Hirsche im Mittelalter genauso wie für die Fasane des Lords in der viktorianischen Zeit.
Erpressung durch die Förster
Viele der Förster bekamen kein Gehalt, hatten aber Justizgewalt inne. Diese nutzten sie auch aus. Beispielsweise gab es viele Förster, die Bier brauten und die Leute in ihrem Einflussgebiet zwangen, es zu kaufen. Dass hier keine Freiwilligkeit im Spiel war, das ist klar. Es war dem Förster ein Leichtes, jedem etwas anzuhängen oder ihn besonders genau zu kontrollieren. Selbst die Förster, die ein Gehalt bezogen, hatten Sonderrechte. Beispielsweise durften sie bestimmte Holzschlagrechte bei den Straßen weiterverkaufen.
Neuland
Zusätzlich war das Erschließen von Land unbedingt nötig, damit neues Einkommen für die wachsende Bevölkerung gewonnen werden konnte. Die Allmende war beschränkt, und nur Neuland konnte neue Familien tragen – wenn der König dies verhinderte, saßen einige schnell auf dem Trockenen. Lords und Gemeinden brauchten darum die Möglichkeit, mit Axt und Pflug den Wald in Ackerland zu verwandeln.
Die englische Landschaft und wie auch die Nation veränderten sich über die Jahrhunderte. Bevölkerungswachstum, Schwächung der Königsherrschaft und übermäßige Jagd drängten den Wald in England zurück. Am Ende war der Königswald auf die persönliche Domäne, also das Eigenland des Königs, beschränkt. Das Konzept von Waldrecht, das die Nutzung für die Untertanen beschränkte, verschwand allerdings nicht. Es verschob sich nur vom König auf die einzelnen lokalen Adligen.
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„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Sie soll Autoren, Spielern und Spielleitern als Anregung dienen und Inspiration fürs Rollenspiel oder Geschichten bieten. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.