Nicht jeder weiß, dass die frühmittelalterlichen Bewohner Dänemarks, Schwedens und Norwegens eine gewichtige Rolle in der Geschichte Großbritanniens und auch Osteuropas innehatten. Wir kennen sie heute meist als „Wikinger“, was ihrer Überlieferung geschuldet ist, denn außerhalb Skandinaviens traf man nun einmal vorrangig auf eine Sorte Däne: einen, der auf Plünderfahrt gezogen war – einen Wikinger.
Die flachen Drachenboote am Horizont mit den wilden – vermeintlich gottlosen – Kämpfern, die aus dem Nichts über einsame Dörfer und Klöster herfallen, nur um dann auf ihren schnellen Ruderbooten wieder zu verschwinden. Das hat Eindruck hinterlassen bei den Opfern ihrer Plünderfahrten, die nach dem Überfall auf das Kloster von Lindisfarne 793 auf den britischen Inseln immer zahlreicher wurden. Die Opfer schrieben und zeichneten; damit hinterließen sie uns ein lebendiges Bild davon, wer diese Fremden angeblich waren. Die Geschichte der Wikinger wird darum meist aus der Perspektive der Überfallenen erzählt. Vieles was wir über die Wikinger ansonsten wissen, entstammt aus wenigen überlieferten Sagen, die oftmals schwer zu überprüfen sind.
Diese Wikinger (von altnordisch vík – Fjord/Bucht; also jemand, der in den Fjorden unterwegs war) waren aber nicht nur „blutrünstige Piraten“. Der Auszug in die Fremde führte zu Siedlungen und kulturellen Verbindungen jenseits Skandinaviens. Die Flüsse in der heutigen Ukraine und Russlands führten die Wikinger südwärts bis nach Persien, von wo sie hochwertigen Stahl zurück nach Hause brachten. Auch das westliche Frankenreich geriet immer wieder unter Druck, da die Könige die Situation mit den Wikingern zunächst nicht in den Griff bekamen.
Häfen, Siedlungen, neue Herrschaften
Skandinavische Fürsten begründeten das Reich des Kiewer Rus nördlich des Schwarzen Meeres, weitere gingen in fremde Dienste, und andere eroberten Land. Nach den ersten Jahrzehnten erfolgreicher Plünderfahrten blies der Gegenwind immer stärker. Im Fantasy oder in der Popkultur werden den Wikingern gerne übermenschliche Kriegerfähigkeiten zugesprochen – das ist Humbug. Ihre Taktiken und ihre Ausrüstung unterschieden sich kaum von den anderen westeuropäischen Völkern. Viele „Wikingerschwerter“ kommen tatsächlich aus dem Frankenreich und sind vom fränkischen Typ. Auch kulturell gab es viele Verbindungen nach Zentraleuropa, so gab es viele Überschneidungen in kulturellen Praktiken wie z.B. der Ehe mit den Stämmen des Norddeutschlands.
In Norwegen bildete sich nach 850 das erste relevante „Wikinger-Königreich“ heraus, die Herrschaft von Harald Schönhaar. Dieser versuchte nicht nur seine Ansprüche zu festigen, sondern sie auch auszuweiten. Dafür brauchte er Geld und Land, denn kein König konnte Loyalitäten sichern, ohne Gefallen und Belohnungen ausloben zu können. Harald sicherte sich in einer Expedition darum die Orkney-Inseln am nördlichen Ende Schottlands. Diese boten einen sicheren Hafen in der Nähe der Plünderziele, jenseits der stürmischen Nordsee. Außerdem musste er die Piraten unter Kontrolle bringen, die machten, was ihnen beliebte. Wie sollte er Schutzgeld („Danegeld“) erpressen und seine eigenen Leute unter sich sammeln, wenn jeder einfach so plündern fuhr, wie es ihm beliebte?
Sigurd der Mächtige, erster Jarl von Orkney
Harald überließ die Orkneys und die Shetlandinseln nach seiner Intervention darum einem seiner Getreuen: Rögnvald, der über Møre an der Küste Norwegens herrschte. Dieser übergab die Inseln seinem Bruder Sigurd. Dieser war der erste Fürst in einer fast vierhundertjährigen Tradition von skandinavischer Herrschaft auf den Orkneys. Von dort überfielen Langboote die einheimische Bevölkerung in Nordschottland.
Schottland war traditionell das Land der Pikten gewesen, deren kultureller Einfluss durch die einfallenden Wikinger zunehmend verschwand. Doch sie gingen nicht ohne einen ordentlichen Kampf, und immer wieder stellten sie sich den Skandinaviern entgegen. So auch Sigurd.
Sigurd hatte sich rund um das Jahr 890 mit einem anderen Kriegsherrn verbündet, Thorstein dem Roten, welcher der Linie der Wikingerkönige von Dublin entstammte. Zusammen fielen sie im Norden Schottlands ein, wo piktische Krieger sich ihnen entgegenstellten.
Ein ehrenvoller Kampf, Mann gegen Mann
Der lokale piktische Anführer war ein wilder und gefürchteter Kämpfer: Máel Brigte von Moray, der den Spitznamen „Hauer“ trug, denn er hatte einen großen deformierten Zahn, welcher prominent aus seinem Mund ragte. Er und Sigurd verabredeten sich zu einem fairen Kampf, um ihre Auseinandersetzung zu klären. Jeder sollte 40 Mann bringen.
Sigurd der Mächtige hinterging seinen Kontrahenten jedoch und rückte mit der doppelten Menge Getreuer an. Zwar leisteten die Pikten wütenden Widerstand, aber sie hatten natürlich keine Chance. Sigurd ließ den Kopf seines Widersachers Máel Brigte abschlagen und hängte ihn sich als Siegestrophäe an den Sattel seines Pferdes.
Damit hätte die Geschichte auch enden können, nur kam es zu einem fast schon bizarren Zwischenfall. Die Sage erzählt, dass Máel Brigtes Hauer den Jarl von Orkney am Bein kratzte und ihm eine Wunde zufügte. Eigentlich harmlos, hätte die Wunde sich nicht entzündet und Sigurd den nicht mehr ganz so Mächtigen dahingerafft.
Sigurd wurde noch in Schottland in einem Hügelgrab beigesetzt, und Thorstein der Rote, sein Verbündeter, starb bald darauf in einem anderen Kampf.
Die Orkneys bleiben wild
Mit den Wikingern auf den schottischen Inseln war es damit aber nicht zu Ende! Sigurds Sohn übernahm die Herrschaft – für ein Jahr, bevor er kinderlos starb. Ebenso turbulent war die Herrschaft von Jarl Hallad. Der Bruder von Sigurd, der ihm die Kontrolle über die Orkneys einst übertragen hatte, schickte seinen Sohn Hallad, um Ordnung in das Piratennest zu bringen.
Hallad jedoch war nicht in der Lage, die Piraten dort auf Linie zu bringen, und verschwand alsbald wieder nach Hause zu seinem Vater. Kalf und Thórir Baumbart, zwei der dortigen Freibeuter, übernahmen erst einmal das Szepter der Orkneys, ganz ohne sich der norwegischen Krone verpflichtet zu fühlen.
Rögnvald versammelte seine Kinder und erklärte ihnen, was er von ihnen erwartete und wo er ihre Zukunft sah. Seine drei Lieblinge erhielten hehre Aufgaben: Sein Sohn Thórir würde den Vater beerben. Hrollaug sollte nach Island gehen, der aufstrebenden Wikingerkolonie im Norden. Hrolf sollte die Normandie erobern; und dann war da noch der ungeliebte Sohn Einar, genannt Torf-Einar (vermutlich aufgrund der dreckigen Arbeit des Torfstechens).
Einar für Orkney
Er, der Sohn einer Sklavin, wurde mit einem einzelnen Schiff zu den Orkneys geschickt, mit dem väterlichen Hinweis, dass die Zufriedenheit von Rögnvald einzig und allein davon abhing, dass der Bastard möglichst weit wegging und möglichst lange fortblieb.
Wir wissen nicht viel über ihn, aber er herrschte interessanterweise für „viele Jahre“. Der größte Zwischenfall seiner Herrschaft war, als Halfdan Langbein, der Sohn von König Harald von Norwegen, den Vater von Einar tötete und auf die Orkneys floh. Dort setzte er Einar ab, der nun wiederum in Schottland ausharrte, um zurückzukehren. Er richtete Halfdan hin.
Das wiederum erzürnte den norwegischen König Harald! Der eilte also erneut los, um die widerborstigen Orkneys unter seine Knute zu bringen. Zwar besiegte er Einar, nur konnte er ihn schwerlich hinrichten. Immerhin hatte Haralds eigener Sohn den Vater von Einar bei lebendigem Leibe verbrannt! Stattdessen verhängte er eine Geldstrafe von 60 Mark und forderte gewisse Privilegien für die Krone ein.
Einar herrschte noch eine ganze Weile, bevor die Inselherrschaft nach seinem Tod in drei geteilt wurde. Solche Aufsplittungen waren immer wieder ein Quell von Unruhe auf den Orkneys und sorgten dafür, dass die Inseln nach und nach ihre Vormachtstellung unter den Wikingersiedlungen in Nordschottland verloren.
„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Sie soll Autoren, Spielern und Spielleitern als Anregung dienen und Inspiration fürs Rollenspiel oder Geschichten bieten. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.
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