Wenn wir heute verreisen, dann denken wir an Urlaub. Aber die Reise hatte einmal eine ganz eigene Bedeutung. Wer reisen ging, der zog in den Krieg. Ein sogenannter Reisiger war ein berittener Krieger, der in fremden Diensten in die Ferne in den Kampf zog. War er zu Fuß, nannte man ihn Reisläufer.
Wer auf Reise ging, der musste sich beschränken. An Gepäck hatte man nur das, was man am eigenen Pferd festzurren konnte, sowie ggf. ein Packpferd dazu, oder Platz auf einem Karren. Natürlich konnte man auch seine Burg, so man eine hatte, nicht mit auf Reisen nehmen.
Das sahen die Hussiten allerdings anders. Sie nahmen ihre Burg kurzerhand mit in den Krieg. Sie erfanden die moderne Wagenburg.
Exkurs: Wer waren die Hussiten?
Die Hussiten waren die Anhänger des Predigers Jan Hus aus dem heutigen Tschechien, der das Gesicht einer durch John Wyclif inspirierte religiösen Neuausrichtung von Prager Gelehrten war. Er hatte Tausende von Predigten in der Bethlehemskapelle in Prag gehalten und eine anhaltende Wirkung auf die religiöse Haltung Böhmens gehabt, das dadurch im Spätmittelalter recht tolerant war. Es brauchte vier Kreuzzüge, um die Hussiten zu besiegen. Ihre Kritik an Prunksucht und kirchlicher Korruption wurde befeuert vom Großen Schisma, welches 1378 durch die Aufspaltung des Papsttums in den römischen Pontifex und den Papst in Avignon entstanden war. Hus wurde 1415 während des Konzils in Konstanz verbrannt, seine Anhänger aber machten weiter.
Das Konzept der Wagenburg
Das Grundrezept ist simpel und vermutlich so alt wie der Wagen. Wer über viele Wagen verfügt, der kann diese des Nachts, wenn er lagert, dazu nutzen, das eigene Lager abzuschirmen. Gegen Wölfe, Überfälle, aber auch gegen garstigen Wind und Kälte. Im Falle einer Konfrontation bilden diese Wagen dann ein physisches Hindernis, das jeder Möchtegernangreifer zuallererst überwinden muss.
Zur Zeit von Spieß und Bogen ist das zwar erschwerend, aber es bewirkt noch keine wahren Wunder. Bogenschützen mögen eine passable Deckung vor feindlichen Angriffen haben und können einigermaßen aus der Deckung heraus schießen, aber letztlich müssen sie sich dennoch exponieren, wann immer sie ein Ziel aufnehmen und unter Beschuss nehmen möchten.
Schon die Römer kannten den Wert mobiler, leicht verlegbarer Verteidigung. Daher trugen viele Legionäre in Feindgebieten ein sogenanntes Pilum Murale (Mauerspeer) mit sich. Dabei handelte es sich weniger um einen Speer, sondern vielmehr um eine modulare Palisade aus beidseitig angespitzten Pflöcken, die über eine Verjüngung in der Mitte verfügten. So konnte man sie mit Seil zusammenbinden, durch die fertige Palisade hindurch mit einem Spieß stechen, oder auch das Pilum Murale greifen und auf Feinde werfen. Dies geschah von Mauern und Erdwällen aus, weshalb der Name Mauerspeer auch durchaus zweideutig zu verstehen ist. Er war ein Speer, aus dem man eine Mauer bauen konnte. Er war aber auch von einer Mauer aus wirksam als Waffe einsetzbar.
Einen Nachteil hatte diese römische Feldbefestigung jedoch: Sie wurde von Händen getragen, und sie beschränkte lediglich die Bewegungsfreiheit der Angreifer.
Neue Waffen, neue Möglichkeiten
Während der Hussitenkriege aber begann ein neues Kapitel der mobilen Festungskriegsführung. Du denkst vielleicht bei einer Wagenburg erst einmal an Cowboys und Indianer, aber einem Historiker kommen auch die Wagenburgen der Hussiten in den Sinn.
Während eine Wagenburg im Wilden Westen nichts anderes ist als die jahrhundertealte Grundidee der Wagenburg an sich, ist ihre hussitische Version etwas vergleichsweise Neuartiges.
Die Hussiten erkannten, dass man bestimmte Technologien, die im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte die Schlachtfelder verändert hatten, miteinander kombinieren konnte. Schwarzpulverwaffen waren relativ neu und spielten noch keine besonders große Rolle auf den Schlachtfeldern Europas. Bislang waren sie nicht ausgereift genug gewesen, um wirkungsvoll und effizient zugleich zu sein. Aber dies änderte sich, just zu der Zeit der sogenannten Hussitenkriege.
Mit dem leichten Handrohr, einem Vorläufer der Hakenbüchse, gab es erstmals eine Schwarzpulver-Feuerwaffe, die sowohl von einer einzigen Person bedient werden konnte als auch über ausreichend Feuerkraft verfügte, Ross oder Reiter in einem Schuss niederzustrecken oder sogar zu töten. Auch die psychologische Wirkung dieser handlichen Kanonen war immens. Besonders Pferde hassten den lauten Donner und den beißenden Gestank.
Auch die Armbrust hatte gerade die Zeit hinter sich gelassen, in der sie eher mäßig wirksam war. In Italien und Frankreich war die Armbrust weitgehend perfektioniert worden. Im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich hatte man ausgiebige Erfahrungen zu ihrer Wirksamkeit gesammelt. Zur Zeit der Hussiten waren Armbrüste durchschlagskräftig, handlich und zuverlässig. Außerdem gab es Spannhilfen, die es ermöglichten, die Waffe mit geringem Kraftaufwand auch unter beengten Bedingungen zu benutzen.
Der hussitische Kampfwagen
Das Rezept für die Wagenburg-Kampfwagen der Hussiten ist an sich denkbar einfach: Man nehme einen gewöhnlichen Pferdekarren böhmischer Bauart mit doppelt bestützten Rädern, kippsicher und geländegängig, und statte ihn mit einem Dach aus. Dieses Dach kann man so kippen, dass es eine Schützenwand mit Schießscharten bildet und zugleich die Seitenwand des Wagens verdoppelt.
An der Unterseite des Wagens wurde zusätzlich ein klappbares Brett befestigt, um zu verhindern, dass man unter dem Wagen hindurch auf die Verteidiger schießen konnte. Auch hier waren manchmal Schießscharten hineingesägt, sodass Armbrustschützen auch unter dem Wagen liegend schießen konnten. Dazu gab es oft noch einen Trog mit Steinen im Inneren, welche die Verteidiger im Notfall werfen konnten.
In und unter einem solchen Kampfwagen hatten 4–6 Armbrustschützen und bis zu 2 Handrohrschützen Platz. Alternativ konnte man auch 1–2 leichte Kanonen auf dem Wagen montieren, neben (und unter) denen dann noch bis zu 4 Armbrustschützen Platz fanden.
Dazu gab es noch einmal ein halbes Dutzend Kämpfer mit Spießen und Dreschflegeln sowie zwei Pavesenträger. Pavesen sind übergroße Schilde, mit denen man Schwachstellen der Wagenburg schützen und weiteren Armbrustschützen Deckung geben konnte.
Wie und weshalb die Wagenburg funktionierte
Die Hussiten hatten einen technologischen Vorsprung. Nicht aufgrund der Waffen, die sie besaßen, sondern weil sie deren Potenzial in vollem Umfang verstanden hatten – lange bevor das andere in gleichem Maße taten.
Um Kriege zu gewinnen, muss man Schlachten gewinnen, aber man muss dem Gegner auch Bewegungsfreiheit nehmen und seine Versorgungswege unterbrechen. Heere können sich nur dort bewegen, wo sie sich auch halten können, ohne aufgerieben zu werden. Hitlers Schergen lernten dies spätestens in Stalingrad, aber auch die Ägypter bekamen diese Lektion von der israelischen Armee im Yom-Kippur-Krieg erteilt. Die Fähigkeit, Gelände und wichtige Positionen zu nehmen, ist bedeutungslos, wenn man diese nicht halten kann.
Die Wagenburg leistete für die Hussiten das, was später Panzer konnten. Sie war imstande, schnell zu verlegen. Gezogen von Pferden, waren die Kampfwagen überaus mobil, denn Pferde sind, solange Hafer verfügbar ist, sowohl ausdauernd als auch leistungsfähig und schnell. Ochsen, die Zugtiere der armen Leute, sind langsam und brauchen lange Pausen. Mit ihnen kann man ein Heer versorgen, aber man kann es nicht schnell verlegen.
Die Karren der Hussiten waren zudem ausgesprochen geländegängig, stabil und leicht zu reparieren, verglichen mit anderen Wagen ihrer Zeit. So konnten sie Orte erreichen, an denen der Feind nicht mit ihnen gerechnet hätte. Den Israelis gelangen ähnliche Leistungen, als sie als Erste gepanzerte Bulldozer verwendeten, um ihre Panzertruppen zu verstärken, damit diese schwere Hindernisse überwinden konnten.
Sicherheit, auch unterwegs
Wer über Wagenburgen verfügt, wie die Hussiten, der kann nicht einfach überrumpelt werden, während er lagert. Bereits eine geringe Vorwarnzeit genügt, damit ein Wagentross, der in Bewegung ist, sich in Burgform verwandelt. Dazu wickelt er sich einfach wie eine Schnecke auf, immer um die Kurve herum, in der die Wagen nicht gepanzert sind. Das Resultat ist eine taugliche Defensivposition.
Gut ohne Planung, aber besser mit
War eine Wagenburg bereits sehr wirksam, wenn sie spontan und ohne viel Zeit errichtet wurde, so wurde sie mit guter Planung und etwas Vorbereitung erst recht formidabel. Wenn die Hussiten die Gelegenheit dazu hatten, errichteten sie ihre Wagenburgen auf kleinen Hügeln und Anhöhen, hoben Erdgräben drum herum aus und rammten spitze Pflöcke in den Boden. Damit erfüllte eine Wagenburg mit etwas Vorbereitung bereits alle Voraussetzungen für eine Befestigung im Stil einer Motte – und das mobil.
Eine derart vorbereitete Stellung war derart leistungsfähig, dass es 400 leicht gerüsteten Hussiten beispielsweise bei der Schlacht von Sudomer gelang, mehr als 2000 schwer gerüstete Reiter erst abzuwehren und dann in die Flucht zu schlagen. All das, nachdem diese mehrere Angriffsversuche unternommen hatten, zunächst beritten und zuletzt zu Fuß.
Schwächen eliminieren, Stärken maximieren
Das Funktionsprinzip einer Wagenburg ist es letztlich, die Schwächen bestimmter Konzepte zu eliminieren und gleichzeitig deren Stärken zu maximieren. Ein Armbrustschütze benötigt beispielsweise kaum Ausbildung. Er muss weder schnell sein noch besonders kräftig. Er kann, in praktisch allen Belangen, ein mittelmäßiger Kämpfer sein. All das spielt aber keine Rolle, solange er sich weder bewegen noch sich selbst verteidigen muss. In der Wagenburg werden die Schwachen durch das Holz der Bretter geschützt, sodass die fähigsten Kämpfer jene sind, die Spieß und Flegel führen. Auch Kinder und Jugendliche können, wenn nötig, unter diesen Umständen kämpfen.
Zugleich nutzt die Wagenburg die Stärken der verwendeten Waffen voll aus. Wenn du dazu mehr wissen willst, liest du am besten den Armbrust-Artikel, wo viele dieser Qualitäten etwas genauer umrissen werden. Kurz gesagt: Mit einer Armbrust kann ein Schütze feuerbereit aus seiner Deckung auftauchen und sofort schießen. Wenn nötig, auch durch ein relativ kleines Loch in seiner Deckung hindurch und in allergrößter Not auch blind, indem er die Waffe einfach aus der Deckung hält und abdrückt.
Das Ende der Wagenburg
Erst leistungsfähige Feldkanonen, die ebenso leicht verlegbar waren wie die Wagenburg, beendeten deren Wirksamkeit. Diese kamen allerdings erst nach und nach ab ca. 1550 auf. Selbst bessere Werkstoffe konnten die Wagenburg dann nicht mehr retten. Nicht einmal metallbeschlagene Wagen mit äußerst dicken Seitenwänden konnten dem Beschuss von den Kanonen, welche ab 1600 gegossen wurden, noch widerstehen. Im Kampf gegen reguläre Befestigungen waren Bombarden bereits kurz nach ihrer Erfindung beliebt.
Schon 1561 bewies das schwedische Kriegsschiff Mars im Dreikronenkrieg erstmals, dass es möglich war, ein anderes Schiff allein mit der Feuerkraft seiner Kanonen zu versenken. Diese Leistung galt zuvor als fast unmöglich, sodass Schiffe vor allem durch Rammangriffe versenkt oder geentert und dabei in Brand gesetzt wurden. Was die Schweden auf dem Meer demonstrierten, erreichte später auch den Landkrieg, nachdem die Kanonen noch etwas weiter verbessert und vor allem leichter geworden waren. Diese verlegbaren Kanonen machten die Wagenburg obsolet. Ebenso, wie die Bombarde bereits zuvor das Ende der klassischen Burg eingeläutet hatte, die im 16. Jh. durch moderne Festungen mit Bastionen und schrägen Mauern ersetzt wurde.
Die Wagenburg im Pen & Paper Rollenspiel
Damit eine Wagenburg funktioniert, benötigt man Armbrüste und/oder Schwarzpulverwaffen sowie Zugpferde. Ist all das gegeben, dann kann man viele der Taktiken und Techniken der Hussiten kopieren. Aber auch in späterer Zeit sind Wagenburgen überall dort nutzbar, wo die Verfügbarkeit leistungsfähigerer Waffen beschränkt ist.
Polizeibeamte des LAPD leben zwar in einer Zeit, in der es tragbare Panzerabwehrraketenwerfer, Mörser und schwere Maschinengewehre gibt. Die meisten Verbrecher haben aber keine, und genauso wenig hat die Polizei sie. Ein Shootout zwischen einer Gruppe Bankräuber und der Polizei kann daher durchaus dazu führen, dass beide Seiten Deckung hinter ihren (oder fremden) Autos suchen. Schließlich sind beide Seiten vorwiegend mit Pistolen und anderen Handwaffen ausgerüstet. Besonders die Polizei benutzt ihre Dienstfahrzeuge dabei gern als fahrbare Deckung und parkt sie bei Bedarf auch dicht an dicht zusammen, ganz wie bei einer Wagenburg.
Auch im Cyberpunk Rollenspiel, sowie in Post-Apokalypsen im Mad-Max-Stil, sind Wagenburgen nicht nur möglich, sondern ähneln mitunter sogar mehr dem Vorbild der Hussiten, als es heute der Fall ist und im Wilden Westen war. Wer ein anschauliches Beispiel sehen will, schaue sich lediglich Mad Max 2 an. Der halbe Film spielt in einer Wagenburg.
In Unterzahl kämpfen
Was die Wagenburg im Rollenspiel interessant macht, ist, dass sie gleich mehrere Bedürfnisse bedient. Sie ermöglicht es zum Beispiel einer zahlenmäßig unterlegenen Gruppe, einem überlegenen Feind standzuhalten. Das steigert, mal ganz taktisch-gamistisch betrachtet, die mögliche Anzahl Feinde, die jeder einzelne Spielercharakter besiegen kann, ohne dass es unglaubwürdig wird. Gleichzeitig macht es jeden Verlust auf der eigenen Seite umso dramatischer und bedeutender, da kleine Gruppen überschaubarer sind und man daher eher irgendeine persönliche Beziehung zu dem Gefallenen hatte.
Gleichzeitig aber gibt es bei einem Wagenburgkampf auch eine Menge für Nichtkämpfer zu tun. Verwundete müssen geborgen werden, Munition muss zu den Kämpfern gebracht werden, und es gilt etwaige Feuer schnellstmöglich zu löschen. Auch den Überblick zu behalten und einen gegnerischen Winkelzug zu erkennen, ist ein möglicher Spielinhalt für einzelne Spielercharaktere.
Gelegenheit für Pausen
Da eine Wagenburg als Hindernis fungiert, dient sie auch dazu, Raum zu schaffen für Dinge, die sonst bei einem Kampf kaum möglich sind. Pausen beispielsweise. Der Angreifer kann den Kampf unterbrechen, ohne dass er fürchten müsste, dass die Wagenburg einfach so wegfährt. Das kann sie schließlich gar nicht. So können auch Verhandlungen stattfinden. Die Spieler können zusätzlich zu anderen Optionen auch auf Zeit spielen, sofern sie mit Verstärkung rechnen, und man kann Pausen für Ausfälle und Sabotageattacken nutzen.
Anders herum sieht es natürlich ähnlich aus. Befindet man sich auf der Gegenseite einer Wagenburg, so hat man es mit einer Abwandlung der klassischen Belagerung zu tun.
Zusammenfassung
Die hussitische Wagenburg war eine regelrechte kleine Festung auf Rädern. Die spezialisierten Wagen boten Platz für Armbrustschützen und auch Kanonen. Erst das Zusammenspiel aus Mobilität, großer Anzahl der Wagen und die Benutzung von Schwarzpulverwaffen und Armbrüsten erlaubten es den Hussiten, feindlichen Heeren zu trotzen.
Durch das Aufkommen moderner Kanonen, die präziser und mobiler waren, hatte das Konzept der Wagenburg dann im 16. Jh. ausgedient. Die meisten Heere hatten allerdings sowieso nicht die Voraussetzungen, welche die innovativen Hussiten in Böhmen mit sich brachten.
Im Rollenspiel sind Wagenburgen, egal ob in der Historie, der Moderne oder gar in der Zukunft, eine gute Gelegenheit, um Kämpfen einen ganz eigenen Twist zu geben. In Wagenburgen können Kämpfe zugespitzt werden, indem es auch zu dramatischen Pausen oder Angriffen in Überzahl kommen kann, die jedem Einzelnen mehr zu tun geben.
ausgesuchte Quellen:
- Hooper, Nicholas, und Bennett, Matthew. The Cambridge Illustrated Atlas of Warfare. The Middle Ages, 768–1487. London, 1996.
- „Hussiten“, Lexikon des Mittelalters (online), Bd. 5, Spalten 232–236.
- Wagner, Eduard, Drobná, Zoroslava, und Durdik, Jan. Medieval Costume, Armour and Weapons. Mineola, 2000.