Der eine oder andere hat sicherlich schon einmal vom Weihnachtsfrieden an der Westfront während des Ersten Weltkriegs gehört. Es ist die klassische Geschichte über den einenden Charakter der Weihnacht, der über die Bevölkerungsgrenzen hinaus die westlichen Kulturen verbindet.
Er ist aber nicht nur eine hübsche Anekdote. Er ist auch ein seltener „Waffenstillstand von unten“, denn er ging nicht von den Offizieren aus, sondern entwickelte sich spontan aus den Schützengräben der Soldaten heraus.
Flandern, 1914
„Encore, Encore! Good singing, old Fritz!“, erklang es von den britischen Stellungen, als den deutschen Soldaten die Luft ausging.
Aber von vorn. Flandern, der 24. Dezember 1914. Es ist eine sternenklare Nacht. In den unbeleuchteten Schützengräben frieren die Soldaten, deren Moral jetzt im Winter bereits unter den Lebensumständen des Stellungskriegs leidet. Ratten, Läuse, Kälte. Noch ist der Krieg nur wenige Monate alt, aber bereits jetzt leiden die Soldaten.
Jeden Tag schauen die Soldaten in die Schlammwüste des Niemandslands hinaus. Verwesende Leichen von Kameraden und tote Pferde bilden neben den Artilleriekratern und dem Netz aus Stacheldraht die Aussicht. In Unbeweglichkeit verharrt die Front. Gähnende Langeweile belastet die Soldaten zusätzlich zu ihren körperlichen Leiden. Dabei sollte der Krieg doch gerade jetzt enden. Die Obrigkeiten hatten doch versprochen: „Spätestens zu Weihnachten seid ihr wieder zu Hause und der Krieg ist vorbei!“ Mitnichten. Waren doch bereits eine Million Menschen in den wenigen Monaten vom Krieg gefressen worden.
Stille Nacht, Heilige Nacht
Mitten in der eisigen Dezembernacht stimmt ein einzelner Soldat, von der Weihnachtsstimmung gepackt, plötzlich „Stille Nacht“ an. Leise klingt das Weihnachtslied über das Niemandsland. Nach und nach steigen immer mehr deutsche Soldaten in den Gesang ein, bis Tausende Männerstimmen Lied um Lied in die Dunkelheit schmettern. Nach „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ ist dann erst einmal Schluss.
Eine Schweigeminute später brandet Beifall durch die englischen Reihen, die nun nach Zugabe rufen. Die Deutschen antworten mit „Merry Christmas“, und bald wird „We not shoot, you not shoot!“ hinzugefügt. Die Engländer können das ernst nehmen, denn die deutschen Soldaten stellen plötzlich Kerzen auf die Ränder ihrer Schützengräben.
Damit brachen sie die oberste Maxime: Verdunkelung! Jeder ihrer Schützen wäre nun zu sehen gewesen, und keiner von ihnen konnte sich ins Niemandsland schleichen. Zusätzlich half die mondhelle Nacht ohne Wolken, die ohnehin dafür sorgte, dass ein Angriff gut zu bemerken gewesen wäre. Die Befehle der Offiziere, die noch Tage zuvor alles getan hatten, um eine Art „Burgfrieden“ zu vermeiden verpufften wirkungslos. Niemand scherte sich um die Drohungen, die ausgesprochen worden waren. Auf beiden Seiten herrschte eine Stimmung, dass es doch bald vorbei sein möge. Alle Soldaten wussten, dass „die da drüben“ ebenso schlechte Bedingungen hatten wie man selbst.
Tommy trifft Hunne, Boche trinkt mit dem Frosch, nur der Ivan bleibt außen vor
Dieses Bedürfnis nach Frieden, das die Soldaten an diesen Weihnachtstagen trieb, ergriff erst die Deutschen und die Briten und dann etwas zögerlicher auch Franzosen und Belgier. Zu Beginn fürchteten sich die Briten noch vor dem trickreichen Hunnen, der zu allem fähig ist. Man dachte ja die längste Zeit voneinander nach Möglichkeit nicht als Mensch, was sich auch in den Spitznamen zeigte. Solche Namen schufen Distanz, und die half beim Töten.
Als in jener Dezembernacht in Flandern jedoch ein Deutscher das Lied von „Annie Laurie“ anstimmt und in akzentfreiem Englisch dieses traurige Liebeslied vorträgt, schwindet das Misstrauen nach und nach.
Ein englischer Soldat wagt dann den ersten Schritt. Private Turner, von den London Rifles, schwingt sich auf die Brüstung und steigt aus dem Schützengraben. Voller Gottvertrauen oder getrieben von einer Prise Wahnsinn, marschiert er auf die deutschen Linien zu. Er hat seine Kamera dabei und knipst wenig später Fotos von deutschen und englischen Soldaten.
Es kam zu immer mehr Momenten der Solidarität. Der deutsche Soldat Rickmer, ein Student, der als Freiwilliger in den Krieg gezogen war, trank mit Franzosen zusammen im Niemandsland Champagner und teilte mit ihnen Zigaretten.
Zeit, die Toten zu bestatten
Leutnant Georg Reim aus Sachsen, der zuvor auch das Lied von Annie Laurie gesungen hat, wagt sich ebenfalls hinaus. Gegen jede Vernunft entscheidet er sich, mit den Engländern darüber zu reden, endlich die Toten im Niemandsland zu bestatten. Ein einzelner Sergeant entscheidet, das Angebot anzunehmen, und Hunderte britische Gewehre senken sich, als er hinaustritt. Bald darauf haben die beiden ungleichen Soldaten im Niemandsland eine Vereinbarung getroffen: Um 9 Uhr früh wollen die Deutschen unbewaffnet ins Niemandsland ziehen und alle Toten – Freund und Feind – bestatten. Überall an der Front finden gemeinsame Bestattungszeremonien statt.
Auch anderswo werden ähnliche Abmachungen getroffen. In der Nähe von Fleurbaix marschieren deutsche Soldaten mit Weihnachtsbäumen statt Gewehren ins Niemandsland. Nur ein einzelner Schuss fällt aus Richtung der englischen Linien, dann kommen die Briten der Aufforderung zum Reden nach. Eine kleine Gruppe Briten trifft sich mit den Deutschen im Niemandsland. Man plaudert eine halbe Stunde, Gelächter ist zu hören, dann gehen sie wieder auseinander, ebenfalls mit einem Abkommen, die Toten zu bestatten.
Und dann schießen sie doch
Nicht an allen Frontabschnitten kam es zu einem Weihnachtsfrieden. Die grimmigen Preußen ebenso wie die kämpferischen Württemberger genauso wenig wie die Soldaten aus Hertfordshire finden, dass Weihnachten etwas daran ändert, dass sie hier im Dreck liegen, um den Feind zu töten. Das Lied der Wahl ist hier darum auch das Deutschlandlied statt Stille Nacht. Obwohl die NS-Propaganda später behauptete, dass die ganze Front mitgeschmettert hätte – an den meisten Orten herrschte der Geist der Weihnacht.
Die Preußen galten sogar als so gefährlich und friedlos, dass die sächsischen Soldaten regelmäßig ihre britischen Gesprächspartner vor ihnen warnten.
Ein Haarschnitt zu Weihnachten
Fast überall gewann jedoch die Vernunft. Menschen begegneten Menschen am absurdesten Ort der Welt: dem Niemandsland zwischen den Gräben. Eine Sache wiederholte sich immer wieder: Man schnitt sich die Haare.
Ein Friseurbesuch, das ist ja der Inbegriff der Zivilisation. Man setzt sich hin, plaudert über dies und das, während man sich die Haare frisieren lässt.
Das sahen auch die Soldaten an der Westfront so. Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft kamen hier zusammen. Darunter auch einige Friseure wie Jack Reagan. Er stellte seinen Hocker auf und erwartete die Laufkundschaft. Für einige Zigaretten frisierte der ausgebildete Barbier nun jeden, der zu ihm kam, ganz gleich, woher er stammte.
Diejenigen, welche keine Gelegenheit hatten, einen Friseur aufzusuchen, frisierten sich gegenseitig. Deutsche schnitten Briten die Haare und umgekehrt. Ohne Hocker und anderes Tamtam. Der eine kniete hin, der andere tat sein Bestes, eine ansehnliche Frisur zu schneiden oder den Bart abzurasieren.
Wie Kinder feixten die Soldaten, mit dem Rasierschaum juxend und Läuse zertretend, die zuhauf aus den Haaren krochen. So ging es den gesamten 25. Dezember über entlang der Westfront.
Fußball, der bessere Wettstreit
Fußball rühmt sich ja gerne damit, Leute zu verbinden. Auch wenn das Kompetitive selten aus dem Spiel verschwindet. Beide Seiten wollen gewinnen – aber immerhin stirbt niemand dabei!
Deutsche und Engländer hatten auch bereits 1914 eine gewisse Vorliebe für den Sport entwickelt. Man plauderte im lockeren Gespräch über die großen Spiele der eigenen Lieblingsvereine. Alle waren sich einig, dass es unvergesslich wäre, wenn man hier – im Niemandsland – eine Partie spielen könnte.
Einfach einen Ball nehmen und loslegen ging natürlich nicht. Wie jeder Stadionbesucher weiß, braucht so ein Fußballfeld zumindest eine halbwegs ebene Fläche. Die Mondlandschaften des Niemandslands waren meist ungeeignet. Das hält aber niemanden auf. Schnell wird geplant. Bei St. Yvon oder Le Touquet da wurde nicht so viel geschossen!
Als nun die ersten Feuer gemacht waren, das eine oder andere Rebhuhn, Hasen oder auch schon einmal ein Schwein und Würste über dem Feuer brieten, ging es ans Fußballspiel!
Was heute vielleicht nicht mehr jeder weiß: Die Dublin Fusiliers, die seien unschlagbar. Zumindest behaupteten das einige der Briten. Vielleicht ist das auch gar nicht so falsch, denn die Tommies hatten zumindest mehr Bälle, um zu trainieren. Die meisten Fußbälle wurden von den Briten herangeschafft, die Fahrradkuriere und Läufer losschickten, um aus den Reservestellungen im Hinterland die Bälle heranzuholen.
(K)ein gut gepflegtes Grün
Konnte man keinen Ball auftreiben, dann tat es auch ein zusammengepresstes Strohbündel, das mit Draht umwickelt wurde, davon gab es ja mehr als genug. Schlimmstenfalls griff man auch auf eine leere Konservendose zurück. Alles für ein wenig sportliche Kurzweil.
Die Soldaten hatten mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen bei ihrem Spiel. Der zerfurchte Boden, der Schlamm und die klammen Uniformen bieten nicht die besten Bedingungen für erfolgreichen Fußball.
Das hält aber Hunderte von großen Jungs nicht davon ab zu kickern. Fällt mal einer hin – was oft vorkommt, nur schon wegen der schweren Stiefel –, hilft man sich gegenseitig auf. Das Spiel ist das Ziel, auch wenn die Zuschauer auf den Schützengräben, die heute einmal Tribünen sein dürfen, laut johlend ihre Mannschaften anfeuern.
Denn eines haben die Jungs, die nun im Krieg zu Männern geworden waren, gemeinsam: Den Fußball hatten sie von den Äckern ihrer Dörfer mitgenommen auf die Totenäcker des Niemandslands.
„Wahnsinn! Wir sind doch im Krieg!“
Viele Offiziere hielten das alles für verrückt. Das Bestatten der Leichen verstand man ja noch! Aber Grillfeten? Friseurbesuche, Tauschmärkte und Fußballspiele? Was für ein Wahnsinn. Wo blieb der kriegerische Geist? Die soldatische Pflicht? Es waren doch Feinde!
Eine seltsame Haltung, nicht wahr? Man könnte meinen, dass eine Million tote Menschen in den wenigen Monaten zuvor, die von der Artillerie zerfurchte Mondlandschaft und das Leid der Soldaten in den Schützengräben der eigentliche Wahnsinn wären.
Die Soldaten hatten jedoch eine ganz andere Perspektive. Kaum ein Stabsoffizier verirrte sich jemals an die Front. Soldaten waren Statistik und Symbole auf großen Karten. Die „Entscheider“ herrschten von hinten.
Die Generalität tobt
Die Generäle erfuhren darum auch erst nach dem Frieden vom 24. Dezember von der Verbrüderung ihrer Untergebenen. Sie befahlen, dass das sofort aufzuhören habe. Verbrüderung und inoffizielle Waffenstillstände mussten unverzüglich beendet werden.
Auf englischer Seite hieß es von General Smith-Dorrien, dass das Austauschen von Lebensmitteln und Tabak sowie das Treffen mit Feinden strikt verboten seien. Alle Einheiten, die sich daran beteiligten, mussten gemeldet werden. Nur, seine Offiziere machten nicht mit. Die Befehle erreichten die Front erst am 2. Januar 1915 – und waren da bereits längst obsolet, und der Krieg hatte seinen normalen Gang wieder aufgenommen.
Die französische Generalität hingegen tobte und spuckte Gift und Galle. Im Zweifel sollten die Offiziere an der Front halt einmal „reinhalten in die Verräter und Fraternisierer“. Die kamen dem aber nicht nach. Keinesfalls wollten sie ihre braven Jungs für ein Weihnachtsfest erschießen. Nicht einmal Kollateralschäden wollten sie riskieren, darum verzichteten sie auch auf den von oben angeordneten Beschuss der Deutschen – ihre eigenen Leute standen ja mitten unter ihnen.
Am Ende gäb‘s noch Frieden!
General Erich von Falkenhayn, der deutsche Oberbefehlshaber der Westfront, stellte ebenfalls fest, dass dieser Frieden eine gefährliche Eigendynamik entwickelte. Es war gestattet worden, dass die Toten begraben wurden. Was die Offiziere aber nicht bedacht hatten, war das Menschliche.
Die Soldaten gingen ja nicht stur einem Befehl nach! Sie trafen sich im Niemandsland mit dem Feind, um gemeinsam Kameraden die letzte Ehre zu erweisen. Nichts verbindet mehr als Gemeinsamkeit und Augenhöhe. Das Bestatten der Toten ist frei von Nation oder König. Tote sind immer gleich, und jeder Mensch kennt die Trauer, die damit einhergeht.
Falkenhayn fürchtete darum – zu Recht –, dass die Feinde vermenschlicht und entdämonisiert würden. Was, wenn die Soldaten zu Silvester wieder Frieden schließen würden? Mehr Fußballspiele statt Sturmangriff? Erneut gemeinsame Lagerfeuer im Niemandsland? Das konnte nicht zugelassen werden.
Kaum ein Regiment hielt sich an die Befehle von oben – von den meisten Preußen einmal abgesehen –, also mussten Maßnahmen ergriffen werden für das neue Jahr.
Es erging der Befehl, dass ab dem 29. Dezember jeder als Hochverräter vor ein Kriegsgericht gestellt werden solle, der sich mit den Feinden verbrüderte, mit ihnen Kontakt pflegte usw. Hochverrat, das hieß potenziell die Todesstrafe.
Nicht ein Frieden, sondern viele Frieden. Menschen treffen Menschen
Der Weihnachtsfrieden von 1914 blieb eine einmalige Sache, und die Ostfront hat er nicht betroffen. Er war eine Sache der deutsch-französisch-belgischen Grenze.
Dennoch ist er eine großartige Erzählung der Geschichte von Menschen. Soldaten, die entschieden haben, dass sie ihre eigene Menschlichkeit wiederfinden wollten, wenigstens für ein paar Tage. Für eine Weile war man mehr Nachbar als Gegner. Mehr Freund als Feind, verbunden durch das gemeinsame Leid, welches sie alle gleich machte.
Was man aber auch bedenken muss, ist, dass es ein Frieden von unten war. Das hieß auch, dass er nicht koordiniert wurde. Die Idee, dass man sich doch einfach mal die Hand schütteln könnte, verbreitete sich von Mund zu Mund und von Regiment zu Regiment. Am Ende waren es einfach nur Menschen, die entschieden, dass sie auf „den da drüben“ für heute einmal nicht schießen wollten.
„Geschichtskrümel“ ist eine wöchentlich erscheinende Serie aus Kurzartikeln. Sie soll Spielern und Spielleitern als Anregung dienen und Inspiration fürs Rollenspiel bieten. Die Geschichtskrümel drehen sich um historische Ereignisse oder Themen, über die ich in meinem Alltag stolpere. Sie sind manchmal lehrreich, manchmal skurril und manchmal einfach nur lustig.
Quelle:
Jürgs, Michael. Der kleine Frieden im Großen Krieg. 3. Auflage. München, 2003.
Bilder: Wohngrab: sivas (Europeana Collections) / CC BY-SA, Schlafender Soldat: National Library of Scotland, Christmas Card: The Army Children Archive (Europeana Collections) / CC BY-SA, Baum im Unterstand: Brigitte Rieser (Europeana Collections) / CC BY-SA, Christmas Truce reenactment: English Pocket Opera Company / CC BY