Welche Gründe gibt es überhaupt, es im Rollenspiel mal als das andere Geschlecht zu versuchen? Da dies ein Thema ist, mit dem ich mich nun schon seit etwas mehr als zwanzig Jahren beschäftige, habe ich eine Menge persönliche Erfahrungen dazu sammeln können und über die Jahre auch zahllose Gespräche mit Spielern und Spielleitern dazu geführt, männlichen, weiblichen und auch trans. Dabei habe ich gelernt, dass es überraschend viele Herangehensweisen an dieses Thema gibt, zahllose Motivationen und ebenso viele Vorurteile. Mit diesen Vorurteilen möchte ich diesen Abschnitt dann auch direkt eröffnen.
Der Einführungsartikel drehte sich vor allem darum, was Cross-Gender-Gaming überhaupt ist, und ich gebe freimütig zu, dass er auch zu einem wesentlichen Teil ein Appell für Toleranz und Aufgeschlossenheit war. Hier geht es nun darum, was SpielerInnen antreibt, im Pen & Paper Rollenspiel einmal das Geschlecht zu wechseln. Auf einige Fallstricke weisen wir in Teil 3 hin.
Vorurteile gegen Cross-Gender-Gaming
Ein Gedanke, dem ich schon ein paarmal begegnet bin, ist schnell auf den Punkt gebracht: „Der spielt eine Frau? Der ist doch bestimmt schwul!“
Das ist nicht direkt naheliegend. Wer schwul ist, der fantasiert nicht darüber, eine Frau zu sein, sondern will Beziehungen und Sex als Mann mit Männern. Deshalb gibt es auch sehr viel mehr Schwule auf der Welt als homosexuelle Crossdresser. Das Gleiche gilt andersherum übrigens auch für Lesben.
Sexualität und Rollenspiel
Allerdings kann man es auch nicht einfach direkt von der Hand weisen, denn besonders in der Pubertät ist vielen Menschen gar nicht so wirklich klar, wie sie denn nun eigentlich ticken. Schließlich ist es die Zeit der sexuellen Identitätsbildung. Es ist also durchaus kein Ding der Unmöglichkeit, dass beispielsweise eine Spielerin, die sich vielleicht zu Frauen hingezogen fühlt, ausprobieren möchte, wie das ist, als ein Charakter mit anderen Frauen im Spiel zu interagieren, aus einer Position heraus, die normativ dazu „legitimiert“, ohne Fragen aufzuwerfen. Wenn ein männlicher Charakter schließlich mit weiblichen NSCs ein wenig flirtet, dann fällt das unter überzeugendes Charakterspiel, da heterosexuelles Verhalten die statistische Norm darstellt und von den meisten zunächst einmal erwartet wird.
Das dürfte allerdings die Ausnahme sein. Und selbst wenn es das nicht ist: Wäre es denn schlimm?
Ein direkt damit verbundenes Vorurteil ist, dass ein Charakter des anderen Geschlechts nur dazu dienen würde, eigene sexuelle Fantasien auszuleben beziehungsweise auszuprobieren. Da wir im Rollenspiel nicht körperlich in unseren Charakteren stecken, sind wir nämlich gleichzeitig der Darsteller wie auch ein Betrachter. Ein männlicher Spieler, der seine sexuellen und gesellschaftlichen Fantasien in einem weiblichen Charakter verwirklicht, kann, während er diesen spielt, nach Belieben den Betrachter wechseln und sich genauso gut einfach in die Charaktere hineinversetzen, mit denen sein Charakter interagiert. Er kann also, um es mal krass auszudrücken, eine sexuell leicht verfügbare Schlampe mit geringem Selbstwertgefühl und Traumkörper erschaffen, sich selbt im Zuge des Spiels aber mit eben den Männern identifizieren, denen sich sein Charakter sexuell andient.
Es gibt viele Gründe, warum Charaktere unpassend wirken können
Ein Charakter, gleich welchem Geschlecht er angehört, sollte darum in die Kampagne passen, und wenn dieses sexistische Bimbo-Klischee vermeintlich in die Geschichte passt, dann tut es das völlig unabhängig davon, wer es spielt und warum. Passt es jedoch nicht ins Spiel, dann ist es auch egal, wer oder was der Spieler ist.
Außerdem fragen wir den Spieler eines Magiers ja auch nicht, ob er vielleicht Allmachtsfantasien ausleben möchte. Natürlich möchte er das. Das ist einer der häufigsten Gründe, einen Zauberer zu spielen. Nur ist das nichts Problematisches oder gar Schlechtes.
Problematisch wirds, wenn es andere stört
Ein Problem für die Gruppe entsteht erst dann, wenn es das Spiel und die Spielfreude der anderen Spieler spezifisch und signifikant beeinträchtigt. Ein Charakter, durch den das Spiel stärker sexualisiert wird, als es den anderen Beteiligten recht ist, stellt ein Problem dar. Egal wer er ist, wer ihn spielt, welches Geschlecht der Charakter hat und welches der Spieler. Jede Beeinträchtigung des Gruppenfriedens kann zum Problem werden, und es ist genauso ein Zeichen von Toleranz, auf Charakterkonzepte zu verzichten, die anderen Spielern besonders übel aufstoßen, wie es von Offenheit und Fairness zeugt, solche Charakterkonzepte nicht einfach generell auszuschließen oder gar zu verbieten.
Das letzte Vorurteil in dieser Aufzählung ist dann auch direkt jenes, welches ich für das am ehesten nachvollziehbare, legitime und gewichtige halte: Manche Spieler haben eine derart eindeutige Identität, dass es schlicht die Dehnbarkeit der Vorstellungskraft ihrer Mitspieler sprengt.
Suspension of Disbelief
Wenn ein großer, dicker, tätowierter Mann mit Blackbeard-Gedenk-Vollbart und tiefer Bassstimme, sächsischem Akzent und Metal-T-Shirt eine Anime Zauberfee-Prinzessin spielt, dann wird dies immer unfreiwillig komisch oder lächerlich wirken, und den meisten Mitspielern dürfte es äußerst schwerfallen, sich die Feenprinzessin als irgendetwas anderes vorzustellen denn als Metaller-Beardy mit Flügeln. Da hilft dann auch Toleranz nicht viel. So wie ein Schauspieler nur ein gewisses Spektrum an Charakteren darstellen kann, so kann auch ein Rollenspieler nicht per se alles spielen. Anders als beim Spiel für Theater oder Film jedoch sind es vor allem stimmliche und psychologische Fähigkeiten und Beschränkungen, die hier wirken. Dazu sei aber auch noch einmal daran erinnert, dass dies nicht nur für den Geschlechtertausch gilt. Der gleiche Spieler wäre vermutlich auch kein besonders überzeugender Elbenbarde der für sein feingeistiges Harfenspiel bekannt ist (auch wenn ich es nicht völlig ausschließen würde), aber ich kann mir eine Menge Rollen vorstellen, in denen er vermutlich sensationell brillieren würde.
Limitationen existieren. Einige sind sozialer Natur, andere eine Folge unseres Wesens und Erscheinungsbildes. Nur sollte man sich damit eben nicht zu leichtfertig abfinden und es zumindest einmal ausprobieren, wenn man möchte. Die Toleranz der Mitspieler sollte diesen Freiraum geben.
Gute Gründe für Cross-Gender-Gaming
So viel zu den Vorurteilen. Welches aber sind die tatsächlich häufigeren Gründe, einen Charakter des anderen Geschlechts zu spielen?
Spezifische Rollen
Nun, einer der schlichtesten Gründe ist, dass Männer und Frauen in den meisten Welten unterschiedlich sind und andere Positionen und Rollen in der Gesellschaft haben. Daher gibt es bestimmte Charaktertypen, die nur beim einen Geschlecht existieren, nicht jedoch beim anderen. Wenn ich im Zuge einer historisch gesetzten Kampagne einen britischen Kavallerieoffizier im Viktorianischen England spielen möchte, dann ist das zwingend ein Mann. Wenn ich einen katholischen Priester spielen möchte, dann ist auch das ein Mann. Will nun eine Spielerin eine dieser beiden Rollen spielen, dann geht das nur, wenn ihr Charakter entsprechend dem männlichen Geschlecht angehört.
Zudem gibt es Rollen, die in beiden Geschlechtern völlig unterschiedlich sind. Stewardessen einer Airline erfüllen eine subtil, aber dramaturgisch relevant andere Rolle als Stewards. Von beiden wird klassischerweise unterschiedliches Auftreten und Verhalten erwartet. Besonders extrem ist es im Bereich der Prostitution, wo man es im heterosexuellen Bereich fast ausschließlich mit Frauen zu tun hat. Es gibt auch männliche Prostituierte, aber sie sind extrem selten und bedienen fast ausnahmslos homosexuelle Kunden. Heterosexuelle männliche Prostituierte sind so extrem selten, dass Männer und Frauen dieser Branche vermutlich nicht Teil der gleichen Geschichte und damit nicht Teil der gleichen Charaktergruppe sind. Wahrscheinlich verlangt die alleinige Seltenheit bereits eine hochspezielle Geschichte, während die andere Seite banaler und bekannter kaum sein könnte.
Schauspielerische Herausforderung
Manche Spieler suchen im anderen Geschlecht eine spielerische Herausforderung, denn natürlich ist es schwieriger, das andere Geschlecht zu spielen als das eigene. Besonders Spielleiter haben es oft leichter, sich in Cross-Gender-Charaktere hineinzuversetzen. Schließlich sind im Schnitt etwa 50% ihrer NSCs vom jeweils anderen Geschlecht, sodass sie auf lange Sicht gar nicht darum herumkommen, dieses auch darzustellen.
Dabei kann bei der rein schauspielerischen Betrachtung auch alternativ ein humoristischer Aspekt im Vordergrund stehen. Während einige diese Motivation bestimmt ablehnen, so kann man sie nicht einfach so von der Hand weisen. Für einige Menschen ist Travestie als etwas Lustiges belegt. Woran das liegt, hat sehr viele Gründe, gesellschaftliche und historische, aber Crossdressing ist nach wie vor Teil von Comedy 101, wenn auch weniger als noch vor wenigen Jahrzehnten. Ein guter Teil von Monty Python‘s Flying Circus basierte ganz deutlich auf diesem Element. So lange es keinen der Mitspieler besonders stört ist auch so etwas nicht auszuschließen.
Spielerische Herausforderung
Dieses Phänomen betrifft realhistorisch und in den meisten fiktiven Welten im Allgemeinen nur weibliche Charaktere und daher im Sinne der Thematik meist nur männliche Spieler, welche diese spielen. Anders als die schauspielerische Herausforderung ist die spielerische Herausforderung etwas, das nicht auf der Schwierigkeit basiert, eine Frau zu spielen, sondern eine Frau zu SEIN. In allen Gesellschaften, in denen Frauen auf irgendeine Art und Weise schlechter gestellt sind oder gar diskriminiert wurden, stellt es eine Herausforderung dar, eine beliebige Rolle in weiblicher Form zu spielen und diesen Umständen gerecht zu werden.
Spieler, für die diese Motivation relevant ist, wollen üblicherweise nicht etwa eine Frauenrolle wie einen Mann spielen, sondern die spezifischen Dinge im Spiel thematisieren, die es Frauen schwerer gemacht haben als Männern. Hindernisse dürfen dabei überwunden werden, aber nicht unbedingt mit brachialer Gewalt, sondern aus der Rolle heraus und in Harmonie mit dem Setting. Anders herum ist das weit weniger ausgeprägt, denn Männer hatten zumindest historisch fast überall und zu nahezu allen Zeiten mehr Privilegien als Frauen. Für einen weiblichen Spieler entfällt diese Motivation daher weitgehend, oder ist nur abgeschwächt anwendbar.
Historische Konzepte biegen oder brechen?
Pirat zu werden und zu sein, war beispielsweise ziemlich einfach. Aber Piratin? Das war ein ganz anderes Kaliber. Deshalb gab es auch so wenige, auch wenn es mehr waren, als die populäre Geschichtsschreibung vermuten lässt. Seeräuberinnen waren jedoch fast immer eine Ausnahme, und sie hatten es sehr viel schwerer und härter als ihre männlichen Mitstreiter. Sie hatten es schwerer, sich zu beweisen oder überhaupt akzeptiert zu werden, und nicht selten gaben sie sich daher sogar anfangs selbst als Männer aus. Zudem hatten sie es auch schwerer ihre eigene Sicherheit und körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten. Und nein, ich rede nicht vom Risiko einer Vergewaltigung, wovon ich als Spielinhalt ohnehin abraten würde, sondern von Problemen, die allein schon die biologischen Unterschiede mit sich bringen: Periode und Schwangerschaft.
Obendrein sind Frauen in männerdominierten Bereichen auffälliger. 50 Piraten und eine Piratin. Was glaubt ihr, an wen sich die Überfallenen am ehesten erinnern werden? Immerhin kann das auch ein Vorteil sein. Grace O‘Malley, der „Pirate Queen of the Celtic Sea“, hat es sicherlich geholfen. Und auch Phoolan Devi, der „Bandit Queen“ von Uttar Pradesh, half es beim Erwerb ihres Rufs, dass jeder sich an sie erinnerte. Wer eine oder beide davon nicht kennt: Macht euch schlau! Beide sind prima Vorlagen für dramatische Abenteuercharaktere!
Frauen in der Vormoderne
Und man muss kein Pirat oder Bandit sein. In den meisten vormodernen Gesellschaften sind viele Dinge für eine Frau kompliziert, die für einen Mann ein Leichtes sind. Dahingegen gibt es kaum Dinge, die Männern explizit schwerer gemacht wurden. Reisen wäre da nur ein Beispiel. Zu reisen war für eine Frau komplizierter, anstrengender und sozial weniger akzeptiert. Auch wenn das natürlich als Verallgemeinerung zu verstehen ist. Es gab selbstverständlich Ausnahmen, wie beispielsweise die reisenden Krämerinnen in Vietnam. Für sie war das Reisen sogar geboten.
Eine andere Variante ist, dass Dinge, die für Männer bereits zu einer bestimmten Zeit abgehakt und erledigt waren, für Frauen noch ausstanden. Amelia Earhart wurde zu einer Frauenikone ihrer Zeit, als sie 1937 versuchte, die Welt mit einem Flugzeug zu umrunden. Diese Möglichkeit, die Erste nach dem Ersten zu sein, birgt einiges an Potenzial. Allein schon, weil es eine Verschiebung in eine andere Epoche ermöglicht. Was, wenn ein Mann etwas 1901 schaffte, die erste Frau es jedoch 1946 versucht? Das eine Setting ist vor dem Ersten Weltkrieg, das zweite nach dem Zweiten. Als Hintergrund für eine Geschichte sind diese 45 Jahre fast schon eine gänzlich andere Welt. Und auch hier gilt wiederum, dass derartige Leistungen durch Frauen oft härter errungen sind, weil diese mit zusätzlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.
Solche Herausforderungen sind für einige männliche Spieler ein guter Grund, weibliche Charaktere zu spielen, denn das Überwinden von Hürden ist der Inbegriff von Drama. Und Drama ist Rollenspiel. Nicht umsonst nennen einige Rollenspiele die Charaktere gar „Helden“. Ein Held jedoch muss Widrigkeiten bezwingen und entgegen objektiven Erwartungen triumphieren. Das bedeutet nicht, dass ein Spiel zuungunsten der Protagonisten manipuliert sein muss oder das gar zwingend sein sollte. Hier geht es nicht um regelmechanische Schwierigkeiten, sondern um gesellschaftliche Hindernisse, und eine Frau hat davon oft mehr zu überwinden als ein Mann.
Reflexion und persönliche Lernerfahrung
Rollenspiele ermöglichen es uns, in fremde Hüllen zu schlüpfen und die Welt durch andere Linsen zu betrachten. Einige von uns tun dies ganz bewusst und mit dem Ziel, dabei etwas zu lernen. Wer andere Menschen spielt, der lernt, sich in deren Haut zu versetzen, eine Meile in ihren Schuhen zu gehen und ihr Leben zumindest zu einem Teil nachzuempfinden. Wie viel man konkret lernen kann, hängt sehr von der Spielwelt, der Spielweise und der Geschichte ab. Ebenso von den Mitspielern und vom Spielleiter, aber die Möglichkeit besteht grundsätzlich. Eine wichtige Sache trainiert man zudem durch Rollenspiele eigentlich immer, egal was man tut: Empathie.
Wenn man also dieses hochgradig vielseitige Hobby betreibt und einem so viele interessante Türen dabei offenstehen, warum sollte man es nicht irgendwann auch einmal nutzen, um das andere Geschlecht etwas besser verstehen zu lernen? Männer und Frauen sind zwar in den meisten Gesellschaften grundverschieden, aber nicht aufgrund biologischer Umstände. Die sind ohne Frage vorhanden, aber nicht so dramatisch, wie manche glauben.
Gesellschaftliche Prägung erkennen
Es ist die Prägung von Gesellschaft und Erziehung, die uns spezifische Rollen andichtet, unsere Köpfe mit Vorurteilen und klar umrissenen Konzepten füllt. Diese klar umrissenen Konzepte erzeugen Stabilität innerhalb einer Gesellschaft, was Konservative daran schätzen, aber sie verhindern auch Wandel und Fortschritt, was wiederum Progressive daran kritisieren.
Es ist die Gesellschaft, welche die Illusion erzeugt, dass die Geschlechter ach so verschieden wären. Manch einer glaubt gar, dass ein Mann nie verstehen könnte, wie es ist, eine Frau zu sein. Witzigerweise ist es anders herum oft nicht so. Viele Männer denken, dass Männer so simpel wären, dass eine Frau sich leichter in einen Mann versetzen könnte als ein Mann sich in eine Frau. Auch das ist ein Vorurteil, das uns Gesellschaft und Erziehung mitgegeben haben. Vielleicht kann man sich aufrütteln und es für sich selbst widerlegen, wenn man einmal in die Haut der anderen Seite schlüpft.
Transsexualität
Für Spieler und Spielerinnen, die sich im falschen Körper geboren fühlen, ist Rollenspiel ein Tor in die Freiheit und ein potenzieller Quell wichtiger Erfahrungen. So man es ihnen denn gestattet. Im Rollenspiel können sie sich ausprobieren, ohne die Gefahr weitreichender gesellschaftlicher Ächtung. Eine transsexuelle Spielerin, die einen Mann spielen möchte, muss sich dazu nicht ihrer Großmutter erklären, die vielleicht noch immer Schwierigkeiten hat, zu akzeptieren, dass es den Holocaust gegeben hat. Schulmobbing ist zumindest durch den Umstand weniger wahrscheinlich, dass Rollenspieler per se zu einer Untergruppe der im schulischen Umfeld bereits isolierten Nerdkultur gehören. Um sich gegenüber Nicht-Rollenspielern wirksam darüber lustig zu machen, was jemand im Rollenspiel getan hat, erfordert oft viel zu viele Erklärungen der Umstände, um wirklich glaubhaft und belastend zu sein. Zumal die nötige Distanz erhalten bleibt, sodass die betroffene Person es immer noch glaubhaft abstreiten und einfach einen der anderen bereits genannten Gründe zitieren kann. Das schafft ein höheres Maß an Sicherheit als im realen Selbstversuch.
Bei älteren Spielern ist es zudem oft so, dass sich ihre Rollenspielgruppe, ihr Freundeskreis und ihre Arbeitskollegen als Gruppen nur selten vollständig überlappen. Auch das reduziert die Tragweite derartiger Experimente. Ein transsexueller Spieler muss nicht aufgrund rückständiger Ansichten seines Chefs darum fürchten, seine Arbeit zu verlieren, wenn seine Mitspieler nichts mit seiner Arbeit zu tun haben.
Outting ist schwierig!
Hinzu kommt, dass es für viele Menschen der LGBT+ Community einiges an Überwindung kostet, sich zu outen. Die Wassertiefe im Rollenspiel zu prüfen, wo die Zahl derer, die auf komische Gedanken kommen könnten, sehr überschaubar ist, stellt für viele Trans-SpielerInnen eine große Verlockung dar.
Ich finde: Gut so! Rollenspiel ist ein soziales Hobby, und es sollte ein inklusives Hobby sein, kein exklusives. Die Rollenspielcommunity profitiert davon, wenn sie sich aus Menschen jeder Ethnie und jeder sexuellen Identität rekrutieren kann.
Ich habe Erfahrungsberichte von vielen LGBT+ Rollenspielern gelesen, für die ihr Hobby ein wichtiger Bestandteil ihrer Identitätsfindung war und nicht selten eine große Rolle für ihre Selbstakzeptanz gespielt hat. Das erachte ich als sehr beeindruckend und wertvoll.
Bruch mit Rollenbildern
Neben allen diesen Gründen gibt es noch einen weiteren, aus dem einige SpielerInnen lieber das andere Geschlecht spielen: Es schafft Distanz, Distanz zwischen Charakter und Spieler. Dafür kann es verschiedenste Anlässe / Motive geben. Manche Spieler können sich nur dann richtig in einen Charakter hineinversetzen, wenn es möglichst wenig Überlappungen zwischen ihrem realen Selbst und dem fiktiven Charakter gibt.
Das andere Geschlecht sorgt sozusagen für einen „weißes Blatt Papier“-Zustand im Kopf. Alle Gefühle des Charakters sind simulierte Gefühle, alle Gedanken des Charakters wohlüberlegt in Bezug auf seine Person und Rolle. Diese Spieler benutzen gegenteiliges Typecasting, wie im Film, gegen sich selbst, um sich selbst zur richtigen Performance zu bringen. Und ja, das bedeutet, dass es Spieler gibt, die zwar fantastisch vielfältige und interessante Frauen spielen können, aber deren männliche Charaktere unerwartet dröge und eintönig sind. Vice versa bei Spielerinnen.
Es gibt aber noch eine zweite Gruppe der Distanzspieler, und das sind die, denen eine zu große Überlappung zwischen sich selbst und dem gespielten Charakter zu viel Stress bereitet. Sie empfinden selbst zu viel reale Angst, wenn ihr Charakter Angst hat, werden selbst zu wütend, wenn ihr Charakter wütend wird. Einige dieser Spieler können das Spiel besser genießen und sich daher auch besser ins Spiel einbringen, wenn die Distanz vergrößert ist. Dies kann geschehen, indem man ein grundsätzlich anderes Charakterkonzept spielt, als es dem eigenen Wesen entspräche, aber nicht jeder Spieler ist damit zufrieden. Will er nun aber bei einem Konzept bleiben, das viel Überlappung mit seiner realen Person hat, dann kann genau der Wechsel von Geschlecht, Kultur oder beidem den benötigten Abstand erzeugen.
Schlechte Gründe?
Ja, auch die gibt es, und einer davon ist die gezielte Demütigung von Mitspielern. Wer das weit hergeholt finden mag, darf sich glücklich schätzen. Ich selbst habe es bereits dreimal erlebt, dass ein Spieler einen Charakter erschaffen hat, mit dem spezifischen Zweck, einen Mitspieler zu erniedrigen, und in zwei der Fälle waren es Cross-Gender-Charaktere. Ein Charakter kann erstellt werden als Karikatur eines Mitspielers oder als Karikatur eines anderen Charakters in der Gruppe, und manchmal ist dazu natürlich der Geschlechtswechsel nötig.
Wenn jemand einen Charakter erschafft, der spezifisch dazu dient, einen anderen Spieler zu erniedrigen, dann ist das verachtenswert, völlig unabhängig von Charakterklasse, Rasse, Ethnie, Geschlecht, oder Rolle. So gesehen, betrachte ich es eigentlich nicht wirklich als legitimen Teil der Cross-Gender-Thematik, da es den Geschlechtswechsel als Werkzeug oder Ausrede missbraucht.
Sexualisierte Spielinhalte betreffen immer auch die Mitspieler
Das Gleiche gilt für das absichtliche Erzeugen unerwünscht sexualisierter Spielsituationen zum Erreichen von Zielen außerhalb des Spiels. Die meisten Spielerinnen können ein Lied davon singen und haben auf die eine oder andere Art im Spiel zu irgendeinem Zeitpunkt schon einmal unangenehme Erfahrungen mit sexuellen und sexualisierten Situationen gemacht.
Auch Ersatzhandlungen im Rollenspiel können für die Beteiligten sehr unangenehm werden. Ein Spieler, der mit seinem Charakter sexuelle Handlungen im Spiel thematisiert, um dabei eigene Fantasien auszuleben, zieht damit seine Mitspieler und den Spielleiter in seine eigene Sexualität hinein. Das kann so weit gehen, dass es dem Spielleiter zunehmend unangenehm wird, in welchem Ausmaß ein Spieler seine NSCs sexuell objektifiziert. Dabei spielt es auch keine Rolle, dass der Charakter entsprechende Bedürfnisse hat. Charaktere gehen aber auch mehrmals pro Woche auf die Toilette, ohne dass der Spielleiter sich deshalb mit den Details ihres Stuhlgangs auseinandersetzen möchte. Es ist auch hier zu besonderer Behutsamkeit und Vorsicht geraten, wenn Spieler und Spielleiter nicht das gleiche Geschlecht haben. Übermäßige Sexualisierung von NSCs durch einen SC oder eines SC durch NSCs kann bei einer solchen Konstellation schnell falsch interpretiert werden.
Zusammenfassung
Die Gründe, sich an einem Charakter des anderen Geschlechts zu versuchen, sind äußerst mannigfaltig und vielseitig. Unser Hobby profitiert davon, inklusiv zu sein, und das beinhaltet auch Aufgeschlossenheit gegenüber unterschiedlichen Spielermotivationen und sexuellen Orientierungen. Kaum einer fragt den Spieler des Barbarenkriegers, warum es denn unbedingt ein Barbarenkrieger sein muss, wenn es doch auch ein Barbaren-Korbflechter sein könnte. Und nur sehr selten müsste er sich dafür rechtfertigen, warum er etwas so homoerotisches wie ein muskulöser, halb nackter Testosteronbomber sein muss.
Im nächsten Artikel geht es dann um praktische Ratschläge für eine bessere Umsetzung von Cross-Gender-Charakterkonzepten sowie Tipps und Tricks, wie sich Konflikte vermeiden oder reduzieren lassen.